Heinrich Pestalozzi
»Wie Gertrud ihre Kinder lehrt
Ein Versuch, den Müttern Anleitung zu geben, ihre Kinder selbst zu unterrichten, in Briefen«
252 Seiten, Preis 11,95 €
ISBN 978-3-86672-024-4

Du sagst, es sei einmal Zeit, mich über meine Ideen von dem Volksunterrichte öffentlich zu äußern.

Nun, ich will es tun und dir, wie einst Lavater Zimmermann seine Aussichten in die Ewigkeit, in einer Reihe von Briefen diese meine Aussichten oder vielmehr diese meine Ansichten so klarmachen, als es mir möglich sein wird.

Ich sah den Volksunterricht wie einen unermeßlichen Sumpf vor meinen Augen und watete mit einer Gewaltsamkeit in seinem Kote herum, bis ich endlich mit den Quellen seines Wassers, mit den Ursachen seiner Verstopfungen und mit den Standpunkten, von denen sich die Möglichkeit, sein nasses Verderben ableiten zu können, bekannt war.

Ich will dich jetzt selber eine Weile in den Irrwegen herumführen, aus denen ich mich mehr durch Zufälle als durch meinen Kopf und meine Kunst wieder herausfand.

Schon lange, ach, seit meinen Jünglingsjahren wallte mein Herz wie ein mächtiger Strom einzig und einzig nach dem Ziel, die Quelle des Elends zu stopfen, in die ich das Volk um mich her versunken sah.

Es ist schon über dreißig Jahre, daß ich Hand an das Werk legte, welches ich jetzt treibe. Iselins „Ephemeriden“ bescheinigen, daß ich jetzt den Traum meiner Wünsche nicht umfassender denke, als ich ihn damals schon auszuführen suchte.

Ich lebte jahrelang im Kreise von mehr als fünfzig Bettlerkindern; teilte in Armut mit ihnen mein Brot; lebte selbst wie ein Bettler, um zu lernen, Bettler wie Menschen leben zu machen. Das Ideal ihrer Bildung umfaßte Feldbau, Fabrik und Handlung. Ich war in allen drei Fächern voll hohen und sichern Taktes für das

Große und Wesentliche dieses Plans, und noch heute kenne ich keinen Irrtum in den Fundamenten desselben. Das ist denn aber hingegen auch ganz wahr: es mangelten mir ebenso in allen drei Fächern die Fertigkeiten und eine Seele, die sich an die Kleinigkeiten desselben mit Festigkeit anschloß; auch war ich nicht reich genug und zu verlassen, um durch ein genugsames Personal unter mir auszufüllen, was mir mangelte. Mein Plan scheiterte.

Aber ich hatte in der unermeßlichen Anstrengung des Versuchs unermeßliche Wahrheit gelernt, und meine Überzeugung von der Richtigkeit desselben war nie größer, als da er scheiterte; auch wallte mein Herz immer dennoch unerschütterlich nur nach dem nämlichen Ziele, und jetzt, selbst im Elend, lernte ich das Elend des Volks und seine Quellen immer tiefer und so kennen, wie sie kein Glücklicher kennt. Ich litt, und das Volk zeigte sich mir, wie es war und wie es sich niemand zeigte. Ich saß eine lange Reihe von Jahren unter ihnen wie eine Eule unter Vögeln. Aber mitten im Hohngelächter der mich wegwerfenden Menschen, mitten in ihrem lauten Zuruf: „Du Armseliger, du bist weniger als der schlechte­ste Tagelöhner imstande, dir selber zu helfen, und bildest dir ein, daß du dem Volke helfen könntest?“ – mitten in diesem hohnlachenden Zuruf, den ich auf allen Lippen las, hörte der mächtige Strom meines Herzens nicht auf, einzig und einzig nach dem Ziele zu streben, die Quellen des Elends zu stopfen, in das ich das Volk um mich her versunken sah, und von einer Seite stärkte sich meine Kraft immer mehr. Mein Unglück lehrte mich immer mehr Wahrheit für meinen Zweck. Was niemand täuschte, das täuschte mich immer; Aber was alle täuschte, das täuschte mich nicht mehr.

Ich kannte das Volk, wie es um mich her niemand kannte. Der Jubel seines Baumwollverdienstes, sein steigender Reichtum, seine geweißten Häuser, seine prächtigen Ernten, selber das Sokratisieren einiger seiner Lehrer und die Lesezirkel unter Untervogtssöhnen und Barbieren täuschte mich nicht. Ich sah sein Elend; aber ich verlor mich in dem umfassenden Bilde seiner zerstreuten isolierten Quellen und rückte in der praktischen Kraft, seinen Übeln zu helfen, nicht in dem Grade vorwärts, in dem sich meine Einsichten über die Wahrheit seiner Lage ausdehnten; und selbst das Buch, das mein Gefühl von diesen Lagen meiner Unschuld auspreßte, selbst „Lienhard und Gertrud“ war ein Werk dieser meiner innern Unbehülflichkeit und stand unter meinen Zeitgenossen da wie ein Stein, der Leben redet und tot ist. Viele Menschen gaben ihm einen Blick, aber fanden sich so wenig in mir und meinen Zwecken, als ich mich im Detail der Kräfte und Einsichten, die seine Ausführung voraussetzten, fand.

Ich vernachlässigte mich selber und verlor mich im Wirbel des gewaltsamen Drangs nach äußeren Wirkungen, deren innere Fundamente ich nicht tief genug in mir selbst bearbeitete.

Hätte ich dieses letztere getan, zu welcher innern Höhe hätte ich mich für meinen Zweck emporheben können und wie schnell wäre ich meinem Ziele entgegengekommen, das ich nie fand, weil ich seiner nicht wert war, indem ich es nur äußerlich suchte und Liebe zur Wahrheit und zum Recht in mir selbst zur Leidenschaft werden ließ, die mich wie ein losgerissenes Schilfrohr auf den Wellen des Lebens umhertrieb und die ausgespülten Wurzeln meiner selbst Tag für Tag hinderte, in sicherem Boden wieder anzukeimen und die Nahrung zu finden, die sie für mein Ziel so wesentlich bedurften. – Die Hoffnung war so eitel, daß ein an­derer diesen losgerissenen Schilf den Wellen ent­reißen und ihn in den Boden hineinsetzen würde, in den ich ihn selber hineinzusetzen versäumte.

Teurer Freund! Wer nur einen Tropfen von meinem Blute hat, der weiß jetzt, wohin ich sinken mußte. Und du, mein Geßner, ehe du weiterliesest, weihest du meinem Gange eine Träne.

Tiefe Mißstimmung verschlang mich jetzo; was ewige Wahrheit und ewiges Recht ist, bildete sich in meiner Leidenschaft in Luftschlösser um; ich hing mit sinnlicher Verhärtung an Worten und Tönen, die in mir selbst den Fuß von innerer Wahrheit verloren, und sank so mit jedem Tage mehr zur Verehrung von Gemeinsprüchen und zum Trommelschlag der Scharlatanrezepte hinab, mit welchen die neuere Zeit dem Menschengeschlecht helfen wollte.

Doch es ist nicht, daß ich dies Versinken meiner selbst nicht fühlte und ihm nicht entgegenzuwirken trachtete. Ich schrieb drei Jahre lang mit unglaublicher Mühseligkeit an den „Nachforschungen über den Gang der Natur in der Entwicklung des Menschengeschlechts“, wesentlich in der Absicht, über den Gang meiner Lieblingsideen mit mir selbst einig zu werden und meine Naturgefühle mit meinen Vorstellungen vom bürgerlichen Rechte und von der Sittlichkeit in Harmonie zu bringen. Aber auch dieses Werk ist mir selbst wieder nur ein Zeugnis meiner innern Unbehülflichkeit – ein bloßes Spiel meines Forschungsvermögens, einseitig, ohne verhältnismäßige Kraft gegen mich selbst und leergelassen von genugsamem Streben nach der praktischen Kraft, die ich zu meinen Zwecken so notwendig hatte. Die Unverhältnismäßigkeit meiner Kraft mit meinen Einsichten stieg nur desto mehr und machte in mir die Lücke immer größer, die ich zu Erzielung meines Zweckes ausfüllen sollte und immer weniger ausfüllen konnte.

Auch erntete ich nicht mehr, als ich säete. Die Wirkung meines Buchs um mich her war wie die Wirkung alles meines Tuns; es verstand mich bald niemand, und ich fand in meiner Nähe nicht zwei Menschen, die mir nicht halb zu verstehen gaben, daß sie das ganze Buch für einen Galimathias ansahen. Und noch neulich, noch jetzt drückte sich ein Mann von Bedeutung, der mich sonst liebt, mit schweizerischer Traulichkeit hierüber so aus: „Aber nicht wahr, Pestalozzi, Sie fühlen doch jetzt selber, daß Sie damals, als Sie dieses Buch schrieben, nicht recht wußten, was Sie wollten?“ – Doch das war mein Schicksal, mißkannt zu sein und Unrecht zu leiden; ich hätte es benutzen sollen, aber ich benutzte es nicht; ich setzte meinem Unglück nur innern Hohn und Menschenverachtung entgegen. Dennoch wich ich nie von meinem Ziele; aber es war jetzt in mir sinnlich verhärtet und lebte in einer zerrütteten Einbildungskraft und in einem mißstimmten Herzen; ich versank immer tiefer dahin, die heilige Pflanze des Menschenwohls auf entweihtem Boden nähren zu wollen.

Geßner! Ich, der ich soeben in meinen „Nachforschungen“ die Ansprüche alles bürgerlichen Rechts als bloße Ansprüche meiner tierischen Natur erklärte und insoweit als wesentliche Hindernisse des einzigen, was für die Menschennatur einen Wert hat, als ein Hindernis der sittlichen Reinheit ansah, erniedrigte mich dahin, mitten unter Vorkehrungen äußerer Gewalt und innerer Leidenschaft, von dem bloßen Schall bürgerlicher Wahrheit und Rechtsbegriffe eine gute Wirkung auf die Menschen meines Zeitalters zu erwarten, die, wenige ausgenommen, allerseits nur in Pausbak­kengefühlen lebten, Gewalt suchten und nach wohlbesetzten Tischen haschten.

Ich war mit grauen Haaren noch ein Kind, aber jetzt ein tief in mir selbst zerrüttetes Kind; ich wallte zwar auch im Sturm dieser Zeit dem Ziele meines Lebens entgegen, aber einseitiger und irrender, als ich es je tat. Ich suchte jetzt in der allgemeinen Aufdeckung der alten Quellen der bürgerlichen Übel, in leidenschaftlichen Darstellungen des bürgerlichen Rechts und seiner Fundamente und in der Benutzung des empörten Gewaltgeistes gegen einzelne Leiden des Volks eine Bahn für mein Ziel. Aber die bessere Wahrheit meiner früheren Tage war für Menschen, die um mich her lebten, nur Schall und Worte; um wieviel mehr mußte ihnen also meine jetzige Ansicht der Dinge eine Torheit sein. Sie tunkten wie immer auch diese Art von Wahrheit in ihren Kot, blieben, was sie waren, und handelten gegen mich, wie ich es hätte voraussehen sollen und nicht voraussah, weil ich im Traum meiner Wünsche in den Lüften schwebte und mir keine Selbstsucht die Augen über meine Menschen öffnete. Ich irrte mich nicht nur in jedem Schlauen, ich irrte mich in jedem Narren und traute jedem, der vor meinen Augen stand und ein gutes Wort redete, auch eine gute Meinung zu. Aber dennoch kannte ich das Volk und die Quellen seiner Verwilderung und Entwürdigung vielleicht wie niemand; aber ich wollte nichts, gar nichts als das Stopfen dieser Quellen und das Aufhören ihrer Übel. Und Helvetiens neue Menschen (novi homines), die nicht so wenig wollten und das Volk nicht kannten, fanden natürlich, daß ich nicht zu ihnen paßte; diese Menschen, die in ihrer neuen Stellung wie schiffbrüchige Weiber jeden Strohhalm für einen Mastbaum ansahen, an dem die Republik sich an ein sicheres Ufer treiben könne, achteten mich, mich allein für einen Strohhalm, an dem sich keine Katze anschließen könnte. – Sie wußten es nicht und wollten es nicht, aber sie taten mir Gutes, sie taten mir mehr Gutes, als mir je Menschen Gutes getan haben. Sie gaben mich mir selbst wieder und ließen mir im stillen Staunen über die Umwandlung ihrer Schiffsverbesserung in einem Schiffbruch nichts über als das Wort, das ich in den ersten Tagen ihrer Verwirrung aussprach: „Ich will Schulmeister werden.“ Dafür fand ich Vertrauen; ich bin es geworden und kämpfe nun seit diesem Standpunkte einen Kampf, der mich auch wider meinen Willen genötigt, die Lücken meiner innern Unbehülf­lichkeit auszufüllen, die meinen Endzwecken sonst entgegenstanden.