Senzala, ein Roman von Hans Werner Geerdts

Hans Werner Geerdts
»Senzala oder:
Der Weg nach Conçeicão da Barra«
230 Seiten – Preis 16,00 €
ISBN 978-3-86672-081-7

Das fünfte Kapitel

Am Abend kehrt Mateus in seine Behausung zurück, nachdem er, wie an allen Tagen, bei der Nachbarin Josefina Brot und Suppe mit den Kindern geteilt hatte. Sie wollten mit ihm spielen, aber Mateus hatte keine Lust.

– Was ist los mit dir, Mateus? fragt Josefina besorgt.

Mit dem Gruß:

– Auf bald!

verlässt er das Haus.

Er will allein sein. Er setzt sich auf die Bettkante, knarrend und quietschend. Er zündet den Docht einer Kerze an. Der unförmige Stearinhaufen scheint mit der Tischplatte verwachsen. Er starrt in die Flamme, die den dunklen Raum spärlich erhellt. Er starrt in die Flamme, die den dunklen Teil seiner Vergangenheit erleuchtet. Er grübelt:

– Warum? Warum musste ich am Leben bleiben? Der Orkan, die wilden Kräfte Exús, der zerstört und Schaden anrichtet, haben Mutter, Vater und Geschwister in den Tod gerissen, vernichteten Hab und Gut. Warum hat Iemanjá, die Meeresgöttin, mich ausgespuckt? War ich es nicht wert, in ihr Reich aufgenommen zu werden?

Mateus weint und streckt sich auf der Lagerstatt aus. Das Säuseln des Windes wiegt ihn in sanften Schlummer. Das Geschehen des Tages wird lebendig:

– Ich war Josef über den Weg gelaufen, war es Oxalás Fügung? Hatte Iemanjá ihre Finger im Spiel? Oder traten andere Götter auf den Plan? Ich bekam Josef in den Griff, wir umklammerten unsere Körper und wälzten uns im Sand. Vor lauter Freude und Glück stürzten wir ins Meer. Wir schmeckten das Salz auf der Haut, wir leckten einander, als wollte einer den anderen fressen. Der Speichel troff. Ist Josef bereit, meine Geschichte zu hören? Er spricht von Vaterland, Gesetzen, Pflicht und Ordnung und von Brauchbarkeit und Nutzen der Menschen. Was ein Rüstzeug fürs Leben ist, weiß ich nicht. Soviel steht fest: Pflicht ist, pünktlich seine Arbeit in der Fischfabrik anzufangen, Ordnung ist, auf ein Klingelzeichen hin Hunger zu haben und das Rüstzeug fürs Leben scheint dazu erfunden, um das Alleinsein ertragen zu können.

Der Morgen naht, ein neuer Tag beginnt. Mateus reckt den Schlaf aus den Gliedern, eine Flut von Vorhaben überfällt ihn. – Ich werde, wie an allen Tagen, die Axt in die Hand nehmen und den Stamm zum Einbaum schlagen, dabei den Blicken der untätigen Freunde ausgesetzt sein. Ob Josef mich sehen wird? Ich werde aufs Meer fahren, fischen, fischen, fischen, tagelang, wochenlang, ein Leben lang. Nein, nicht länger! Ich will das Dorf verlassen, um in der Stadt mein Glück zu suchen.
Mateus verliert den Sinn für die Wirklichkeit, steigert seine Wünsche bis zu Anmaßungen, verbunden mit Rachegefühlen: – Ich will als Orkan meine Kräfte zeigen, Verwüstungen anrichten, Bäume ausreißen, Dächer der Häuser zu fliegenden Drachen machen, Hütten zerstückeln, Kadaver auf den Grund des Meeres schicken. Ich will Not und Elend verbreiten und mich erfreuen an diesem Unheil. Die Schaumkronen der Wellenkämme sollen vor Geilheit spritzen.

Alles Hirngespinste, die er Josef nicht unterbreiten wird. Er soll ihn in die Stadt Salvador begleiten. (Auszug)