Katja Wolff
Brief an eine Hexe
96 Seiten – Preis 9,95 €
ISBN 978-3-930730-45-2
1
Erinnerst Du Dich noch an Stefan aus Bulgarien? Du hattest gerade Deine Heilgabe entdeckt und festgestellt, daß sich damit gutes Geld verdienen läßt. Schräg gegenüber von Deiner Wohnung war eine Kirche. Die hast Du nie von innen gesehen. Und Stefan sagte: Bevor Du einen Menschen heilst, mußt Du in die Kirche gehen und Gott fragen, ob es überhaupt sein Wille ist, daß der Betreffende gesund wird.
Darüber hast Du Dich dann lustig gemacht. Ich zuerst auch, jedenfalls ein bißchen, weil ich meinte: Man muß doch nicht in eine Kirche gehen, um Gott etwas zu fragen. Das geht zu Hause genauso gut. Ansonsten fand ich Stefans Rat aber gar nicht so abwegig. Schon damals nicht. Heute würde ich noch einen Schritt weiter gehen als Stefan und jemandem wie Dir raten: Frage Gott zuerst, ob diese Gabe überhaupt von ihm kommt.
Aber ich fürchte, das interessiert Dich gar nicht. Heute noch weniger als damals. Denn mittlerweile kannst Du nicht nur heilen, sondern auch das Gegenteil davon. Das ist jedenfalls Deine Überzeugung. Und wenn ich mir anschaue, wie viele Menschen, an denen Du Dich rächen wolltest, inzwischen krank geworden oder sogar verstorben sind, dann kann ich nicht so ohne weiteres sagen: „Du spinnst!“
Irgendwie ist es wirklich eigenartig. Manche würden vielleicht sagen: Das sind Zufälle. Mit dem Wort „Zufall“ wird immer wieder gern versucht, Tatbestände wegzuerklären, die einem nicht ganz geheuer sind. Aber wenn solche „Zufälle“ sich häufen, dann sollte auch der hartnäckigste Zweifler ins Grübeln kommen. Ich glaube aber nicht an Zufälle.
Auch ohne voreilige Erklärungen an den Haaren herbeiziehen zu wollen, muß man ganz neutral feststellen: Es gab eine gewisse Anzahl von Menschen, auf die Du einen Haß hattest. Und bis auf wenige Ausnahmen geht es diesen Menschen heute, soweit sie noch am Leben sind, überhaupt nicht gut. Ich fürchte, diese Tatsache erfüllt Dich mit tiefer Befriedigung.
2
Bevor Du mit diesem Zirkel von Damen, die sich für das Übersinnliche interessierten, in Kontakt gekommen bist, warst Du eine ganz normale, durchschnittliche Frau. Dein Lebenslauf unterschied sich nicht von dem Millionen anderer. Verliebt – verlobt – verheiratet – geschieden, das ist ja inzwischen traurige Normalität. Enttäuschungen und Katastrophen sind Dir nicht erspart geblieben, aber wer könnte schon von sich sagen, daß sein Leben immer leicht und angenehm war? Auch teiltest Du die geheime Grund-überzeugung der überwiegenden Mehrheit, nämlich irgendwie etwas Besseres zu sein als der Durchschnitt, und etwas Besseres verdient zu haben als das, was Du hattest.
Das alles mag harmlos sein oder nicht – es unterschied Dich jedenfalls in keiner Weise von anderen Frauen. Und dann nahm Dich eine Deiner Freundinnen irgendwann in diesen Zirkel mit. Jeden Dien-stag. Kein magischer Zirkel, kein spiritistischer Zirkel, keine Hexen oder Wahrsagerinnen – einfach ein knappes Dutzend durchschnittlicher, harmloser Frauen, die sich für Reiki interessierten, ohne genau verstanden zu haben, was das eigentlich ist.
Du bist nie eine große Gehirnakrobatin gewesen und hast eigentlich – abgesehen von Illustrierten – nie etwas gelesen. Deine Informationen hast Du in erster Linie aus dem bezogen, was andere Dir so erzählten. Und sie erzählten Dir: Reiki sei eine tolle Sache. Da werde kosmische Lebenskraft übertragen. Dadurch werde man gesund, schön und erfolgreich. Man könne auch Kranke heilen und auf diese Weise viel Gutes tun. Also habt Ihr Euch gegenseitig die Hände aufgelegt und Euch gefreut, wenn eine von Euch sagte, sie könne dabei ein Kribbeln spüren. Darüber könnte man lächeln, wenn es harmlos wäre.
Die meisten von Euch hatten irgendwelche geringfügigen gesundheitlichen Probleme, und wenn Ihr Euch voneinander verabschiedetet, habt Ihr Euch gegenseitig erzählt, wie viel besser es Euch nach der „Behandlung“ ginge.
Na ja. Vielleicht tat es Euch ja auch einfach nur gut, einander gegenseitig Zuwendung zu geben. Jedenfalls am Anfang. Nach einer Weile behaupteten verschiedene Damen des Zirkels, das Kribbeln sei am stärksten, wenn Du die Hand auflegtest. Das wird Dich natürlich gefreut haben. Jeder ist begeistert, wenn andere ihm sagen, er hätte ein großes Talent. Das ist natürlich mit Anerkennung durch die Gruppe verbunden und gibt einem die lang ersehnte Bestätigung für das, was man immer schon glaubte: Daß man nämlich irgendwie doch etwas ganz Besonderes ist, auch wenn es bisher niemand begriffen hat.
Nach einer Weile warst Du zwar nicht unbedingt der Star des Zirkels, aber doch diejenige unter den Damen, von der man sagte, sie hätte die größte Heilkraft. Oder die Reiki-Energie würde durch Deine Hände am stärksten fließen. Wie immer sie das in Worte gefaßt haben mögen – sie vermittelten Dir das Gefühl: Reiki bringt Erfolg, Anerkennung und Beliebtheit.
Bald kamen einzelne Damen des Zirkels privat zu Dir nach Hause, um sich von Dir ganz allein die Hände auflegen zu lassen. Hinterher hast Du mit ihnen nett Tee getrunken und geplaudert, so daß der Nachmittag für die Gäste ein unterhaltsames Erlebnis war.
Einige empfahlen Dich an Bekannte weiter, und irgendwann kam der erste Fremde, der bereit war, für das Handauflegen Geld zu bezahlen. Ab diesem Moment hast Du angefangen, so etwas wie beruflichen Ehrgeiz zu entwickeln und Dich „weiterzubilden“. Plötzlich hast Du sogar Bücher gelesen. Daß sich mit Deinem „Talent“ leicht und angenehm Geld verdienen ließ, hat Dich stark motiviert. Auf einmal hattest Du einen Lebensinhalt und ein Ziel: Geistheilerin zu werden. Das versprach Geld, Anerkennung und die Chance, viele interessante Menschen kennenzulernen.
So fing alles an.