Umschlag der Hardcoverausgabe von Heines Schwabelewopski

Heinrich Heine
»Aus den Memoiren des Herren von Schnabelewopski«
Mit Illustrationen von Julius Pascin
Hardcover
120 Seiten, Preis 19,95 €
ISBN 978-3-86672-100-5

Vor langer, langer Zeit lebte zu Aachen, in der alten Kaiserstadt, ein Schneidermeister, wie es deren heute noch viele gibt. Doch hatte Meister Caspar damals das besondere Vorrecht, die kaiserlichen Stalldecken und sonstige Kleidungsstücke für Pferde und Dienerschaft mit seiner kunstreichen Nadel verfertigen zu dürfen. Er bildete sich auf dies Amt nicht wenig ein, und wenn man ihn auf seinem Tische sitzen sah, mit der spitzen weißen Mütze auf dem Kopf, die Elle wie ein Zepter in der Hand schwingend, so hätte man wohl glauben können, Meister Caspar sei der Kaiser selbst gewesen. Obgleich er aber nur ein kleines dürres Kerlchen war, so besaß er doch bei seinen Gesellen und Lehrjungen einen fast unglaublichen Respekt, was um so unbegreiflicher war, da er mit seinen Leuten nie lärmte und schimpfte, sondern bei vorkommenden Gelegenheiten seine feine krähende Stimme erhob, um seinen Schneiderburschen mit aller Artigkeit zu sagen, daß sie Lumpen und bis unter die Haut schlechte Kerle seien. Es war merkwürdig, was die wildesten und verwegensten Schneidergesellen zahm und gelenkig wurden, wenn sie erst eine kurze Zeit in Meister Caspars Werkstatt gearbeitet hatten. Die Faulen wurden fleißig und die, welche lieber Geschichtchen erzählten oder Lieder sangen, als wie Stiche machten, schienen bald in dem Punkt, ihr ganzes Gedächtnis verloren zu haben und waren stumm wie die Fische. An dieser guten Zucht mochte nun der strenge Meister selbst viel Schuld sein. Doch wollten andere Leute behaupten, daß die Gesellen, wenn ihnen der kleine dürre Mann mit der haarfeinen Stimme eine Standrede hielt, eher darüber zum Lachen geneigt seien, als zu Befolgung seiner Vorschriften, und daß im Haus ein anderer Zauber walte, der im Stande sei, die kecken trotzigen Gemüter der Schneider zu bändigen. Der Zauber war aber Niemand anders, wie das sechzehnjährige Töchterlein des Meister Caspar, die ihm, da die Frau Schneidermeisterin gestorben war, die Wirtschaft führte. Sie kochte für die Gesellen das Essen, legte Allen bei Tische vor, und wenn hier unter ihnen mancher war, der von Hause her die schöne Gewohnheit hatte, auf gut türkisch zu essen, das heißt: mit der Faust in die Schüssel zu fah­ren, so ließ er es wohl bleiben, wenn ihm Rosa, so hieß Meister Caspars Töchterlein, einmal ein schiefes Gesicht darüber gezogen.

Wenn nun auf diese Art Meister Caspars Zucht in seiner Werkstatt und Rosas Freundlichkeit in ihrem Hauswesen sich allmählich über die fremden Gesellen und Lehrburschen verbreitet hatte, so war dies doch bei einem Einzigen nicht der Fall, der noch obendrein aus des Meisters Caspars Sippschaft und seiner Schwester Sohn war. Philipp, so hieß dieser Neffe, war eigentlich von Natur ein gutmütiger Mensch, und, wenn er wollte, ein geschickter und fleißiger Arbeiter. Doch hatte er die fatale Gewohnheit, bei keiner Arbeit eifrig aushalten zu können. Nahm er ein neues Kleid oder so etwas vor, so nähte er zum Beispiel die erste halbe Stunde unverdrossen darauf los und machte dabei unvergleichlich schöne regelmäßige Stiche, daß dem Meister Caspar vor Freuden das Herz im Leibe lachte. Doch länger als höchstens eine halbe Stunde hielt der gute Philipp das ruhige Arbeiten, besonders aber das Stillschweigen dabei nicht aus. Dann stieß er gewöhnlich seinen Nebenmann an und plauderte mit ihm über Sachen, die gar nicht dahin gehörten; oder er sang, lachte, trieb Späße, kurz, brachte in wenig Zeit die ganze Werkstatt in Unordnung und Aufruhr.

Diese Unart hatte ihm der Meister schon oftmals in Güte und Strenge verwiesen, hatte ihm sowohl in Beisein der Gesellen als wie geheim auf seiner Kammer tüchtig den Text gelesen; aber das half Alles nichts: Philipp trieb seine Späße fort und da er nebenbei die Andern auf alle mögliche Art neckte, so gab er auf die­se mehr, als auf sein Geschäft Acht, und verdarb gewöhnlich bei solchen Anlässen eine Arbeit, die er aufs Kunstreichste angefangen. Seine Stiche wurden dann lang und immer länger, und anstatt einen Mantelkragen in kunstreiche Falten zu schlagen, nähte er ohne Bedacht darauf los, als wollte er dem Koch oder irgend einem andern Bedienten eine Schürze machen.

So hatte Philipp dem Meister schon manches Stück Arbeit verdorben, und war von diesem oftmals bedroht worden, daß er ihn bei der nächsten Veranlassung in die Fremde schicken wollte, doch immer hatte eine angelobte Besserung oder die Bitten Rosas, die den unartigen Vetter wohl leiden mochte, den Zorn des Vaters gedämpft. Auch hätte es diesem selbst leid getan, so alle schönen Luftschlösser verschwinden zu sehen, die er auf seinen Schwestersohn gebaut hatte. Der Meister hatte sich einiges Vermögen erworben und eine glänzende Kundschaft, in welche er Philipp, als in ein warmes Nest hineingesetzt hätte. Bei diesem Vorhaben sah er auch in der Zukunft seine Tochter Rosa versorgt, die er ihm dann gern zur Frau würde gegeben haben. Doch vor der Unbedachtsamkeit und Plauderhaftigkeit des Vetters zerflossen alle die Projekte in Wasser. Je mehr Nachsicht der Meister übte, je wilder und unartiger wurde Philipp, und verschlimmerte sich trotz Rosas Bitten jeden Tag mehr und mehr. Er lieferte kein Stück Arbeit mehr ab, in welchem sich nicht ein grober Fehler befand, und neben der Nachlässigkeit, welche diesen Fehler begehen ließ, machte er aus Mutwillen andere, die noch viel schlimmer waren. So kam es ihm gar nicht darauf an, auf das schwarze ehrbare Kleid eines Ratsherrn einige bunte Lappen zu setzen, die anfänglich vom Mantelkragen verdeckt wurden und bald darauf, wenn sich auf der Straße ein kleiner Wind erhob, die ehrbare Magistratsperson dem Gespött der Gassenbuben aussetzte. Das Sprichwort: Der Krug geht so lange zu Wasser, bis er bricht, zeigte sich auch an Philipp in voller Kraft; denn am Ende einer bedeutungsvollen Woche, in der sich der Vetter besonders schlecht aufgeführt, nahm Meister Caspar ein großes Stück Kreide, und machte durch den Namen seines Neffen an der Wand einen vielsagenden Strich. Er kündigte ihm darauf an, daß er morgen früh sein Haus zu verlassen habe, und da Meister Caspar fürchtete, daß er gegen Philipps Bitten und Rosas Tränen doch wieder nachgeben würde, so tat er einen kräftigen Schwur darauf, ihn nicht eher wieder in sein Haus und seine Werkstätte aufzunehmen, bis er sich gebessert und ihm zum Zeichen dafür wenigstens sechs wohl erworbene Goldgulden auf den Tisch legen könne, eine für die damalige Zeit sehr große Summe.
Die Gesellen und Lehrburschen, die umher standen, erblaßten bei diesem feierlichen Akt und nur Philipp, als er hierdurch sah, daß er unvermeidlich fort müsse, war der Gefaßteste, packte sein Felleisen zusammen, band Schere und Bügeleisen oben hinauf und trat noch an demselben Nachmittage vor den Meister Caspar und Rosa hin, um sich bei ihnen zu verabschieden.
Ach, hätte er lieber sein Mühmchen nicht wieder gesehen und wäre stillschweigend fortgegangen! Doch als er jetzt Abschied nehmend vor ihr stand, sah er wohl, wie schön ihr blaues Auge war, wie schlank und lieblich ihre ganze Gestalt, und fühlte wohl in seinem Herzen, warum das ihrige so schlug, als sie ihm zum letzten Male die Hand reichte. Sie hielt in ihrer Hand ein kleines Beutelchen mit Scheidemünze, das sie dem Vetter einhändigen wollte. Sie hatte es ihm schon in die Hand gedrückt, als zwei Tränen ihren Augen entrollten und dem armen Burschen auf das Herz fielen, so daß er auf einmal seinen Leichtsinn und die Größe seiner Schuld einsah, und eilig aus dem Hause lief, um seine Tränen zu verbergen.

In der damaligen Zeit war es für einen Handwerksburschen weit schwerer, ein Unterkommen und Arbeit zu finden, als jetzt. Das wußte auch Philipp wohl, und da er nebenbei jetzt die Größe seiner Fehler recht einsah, so hatte er gar nicht den Mut, sich auf die Straße nach irgend einer großen Stadt zu machen, sondern stieg träumend und nachdenkend hinter seiner Vaterstadt Aachen in die Höhen hinan. Hier verirrte er sich bald zwischen den Felsen und Kastanienwäldern des Berges, den man heutzutage den Louis- und Losberg heißt. Dies machte ihn recht traurig, denn es fielen ihm bei jedem Stein, bei jedem Hügel so manche Stunden seiner Kindheit ein, wo er mit andern Knaben hier gespielt. Da liegen große Sandsteinfelsen umher, in denen sich die schönsten versteinerten Muscheln und kleine Seetiere befinden, welche die Kinder aus den Steinen heraushauen und als artiges Spielzeug gebrauchen. Wie manche Tasche voll versteinerter Schneckenhäuser, Wendeltreppen und andere Muscheln hatte er hier zusammengetragen und mit nach Hause genommen.

Hinter diesen Plätzen, wo man die schönsten Versteinerungen mit leichter Mühe findet, fingen dichte weitläufige Tannenwälder an, bis zu deren Grenze die Kinder und Erwachsenen gingen, aber weiter nicht. Denn hinter diesen alten schwarzen Bäumen sollte es nicht recht geheuer sein, wie die Leute sagten. Da fand man freilich zwischen den Bergen die schönsten Versteinerungen, aber man wollte behaupten, daß Alles, was von dort herkäme, etwas Unheimliches an sich hätte. Oftmals brachten Holzhauer die schönsten Muscheln von dort mit, um sie zu Haus auf Gesims und Wandschränke zu legen; doch trugen sie sie bald wieder fort, denn mitten in der Nacht fing es zuweilen aus den Steinen an zu singen und leise zu wispern; es klagte und seufzte wie mit den Stimmen kleiner Kinder, denen man wehe getan. Das taten die Hurlemänner, die in den Steinen und Muscheln wohnten, wie alte Leute versicherten, und die man sich nicht zum Feinde machen durfte, weshalb man auch jenen Teil des Losberges in Frieden ließ und von dort keine Versteinerungen mitnahm.

Philipp, nachdem er auf allen Plätzen umhergewandelt, wo er sich früher mit Knaben seines Alters belustigt, stieg träumend und nachdenkend fort und dachte traurig an Aachen, an den Meister Caspar, aber noch mehr an Rosa. So hatte er bald die Grenze jener Tannenwälder erreicht, von wo es zwischen den Bergen bald auf-, bald abgeht. Er achtete nicht auf Weg noch Steg, und sah sich bald dergestalt zwischen den hohen und dichten Bäumen, daß er nicht mehr wußte, wo er hergekommen war und wo er wieder hinaus sollte. Auch sank die Sonne allmählich und jetzt fiel es dem armen Burschen plötzlich ein, in welchem Revier er sich befinde. Er lief bald rechts, bald links, um einen Ausweg zu suchen, fand aber keinen, und wenn er zuweilen seine Stimme erhob und laut nach Jemand rief, der ihm den richtigen Weg zeigen könnte, so war es nur das Echo, das ihm antwortete, und das, so kam es ihm zu seinem Entsetzen vor, hier wie ein feines Hohngelächter klang. Indessen kam die Nacht heran, und da Philipp nun wohl einsah, daß er jetzt keinen Ausweg aus dem Tannenwald mehr fände, so ergab er sich in sein Schicksal, und suchte nach einem Platz, wo er vor dem kalten Winde geschützt wäre und vielleicht etwas schlafen könnte. Bald hatte er auch einen solchen Platz gefunden und setzte sich ins Moos an den Stamm einer Tanne, betete ein paar Vaterunser und schlief darauf ein.