Umschlag Bozena von Marie von Ebner Eschenbach

Marie von Ebner-Eschenbach
»Božena«
Roman
Mit einem Nachwort von Rudolf Wolff
236 Seiten, Preis 18,00 €
ISBN 978-3-86672-119-7

Leopold Heißenstein war der reichste und einer der geachtetsten Bürger des mährischen Landstädtchens Weinberg. Ob auch einer der beliebtesten, das stand dahin und machte die geringste seiner Sorgen aus. Witzbolde unter den Eingeborenen meinten, ein Mann von Geist und Geschmack sei er jedenfalls, das bringe schon sein Geschäft mit sich – das ansehnli­ che Weingeschäft nämlich, das sich seit Generationen in seiner Familie forterbte, und das er zu unerhörter Blüte gebracht hatte. (Hier können Sie weierlesen…)
Wie Leopold der einzige Sohn seines Vaters gewesen war, so wurde auch ihm nur ein männlicher Sprosse, aber ein prächtiger Junge beschert, der den Ruhm des alten Hauses glorreich fortzusetzen versprach.

Ein Töchterchen, das seine Frau ihm in den späte­ren Jahren der Ehe gebar, betrachtete Heißenstein als ziemlich unwillkommene Zugabe zu seinem Glücke: »Denn«, pflegte er zu sagen, »der Sohn trägt Geld in das Haus, die Tochter trägt Geld aus dem Haus.«

Auf eine Mitgift übrigens, wenn auch auf eine sehr anständige, kommt es einem Manne wie Heißenstein nicht an, und damit fertigt er dereinst das Mädchen ab.

Die Existenz dieses Kindes, dem Vater so gleich­gültig, wurde für die Mutter eine Quelle unsäglicher Freude; der letzten, welche die kränkliche Frau auf Erden genießen sollte. Der Sohn war ihrer Sorgfalt, sobald dies nur halbwegs anging, entzogen und nach Wien in eine Erziehungsanstalt gebracht worden. Heißenstein hatte geglaubt, ihn nicht früh genug aus der Kinderstube und den Händen der »Weibsleute« befreien zu können. Wie recht er daran getan, das wurde ihm täglich durch den unheilvollen Einfluß be­stätigt, den die abgöttische Liebe der Mutter auf die kleine Rosa ausübte. Die Unarten des Kindes erfüllten ihn mit einer Art von spöttischer Befriedigung. Ihm selbst war die Unerbittlichkeit, mit welcher er Mutter und Sohn einander entfremdete, manchmal grausam erschienen – jetzt fand er sie auf das glänzendste ge­rechtfertigt.

Daß die arme Frau sich eben mit allen Kräften ihres entschwindenden Lebens an das einzige klammerte, das man ihr ließ, daran dachte er nicht. Er war nicht gewohnt, auf die Empfindungen andrer Rücksicht zu nehmen, am wenigsten auf die seiner stillen Lebens­gefährtin. Was er tat, war wohlgetan, und der Ein­druck, den es hervorbrachte, gleichgültig. In siche­rer Ruhe schritt er dahin, seiner selbst gewiß, nichts fürchtend, nichts bereuend. Und so, in der Fülle der Zufriedenheit, traf ihn der schwerste Schlag, der ihn treffen konnte: er verlor seinen Sohn. Der Knabe wur­de so rasch hinweggerafft, daß seine Eltern, die bei der ersten Nachricht seiner Erkrankung herbeigeeilt ka­men, ihn nicht mehr am Leben trafen.
Es dauerte lange, bis Heißenstein an seinen Ver­lust glauben lernte. Die Wirkung des ersten großen Unglücks, das der zuversichtliche Mann erfuhr, war vernichtend.

»Für wen habe ich gearbeitet? – Ich habe keinen Erben!« – in dieser Klage gipfelte sein Schmerz. Sei­ne Hoffnungen waren zerstört, seine Erinnerungen vergällt. Wer blickt gern auf ein Leben voll Mühen zu­rück, wenn ihm die Früchte derselben geraubt worden sind? Heißenstein konnte, was sein Fleiß erworben, nicht einem Namensträger hinterlassen, demnach war der Lohn seines Fleißes dahin.

Mit wunderbarer Standhaftigkeit hingegen benahm sich die Mutter bei dem Tode ihres Erstgeborenen. Keiner hatte es gehört, wie sie mit dem letzten Kus­se auf seine Lippen ihm die Worte zugehaucht: »Ich komme bald zu dir!«

Und von dem bleichen Toten hinweg wandte sie sich mit verdoppelter Zärtlichkeit ihrem rosigen, lebensfreudigen Liebling zu. Beständig von der Ahnung naher Trennung erfüllt, geizte sie mit jedem Augen­ blicke, den sie bei dem Kinde zubringen, frohlockte über jedes Lächeln, das sie ihm abgewinnen konnte, warb um seine Liebkosungen, und zagte und zitterte vor seinen Tränen.

Röschen war schon zu dem vollen Bewußtsein ih­ rer Wichtigkeit und der Unverletzlichkeit ihres Wil­ lens gelangt, als sich plötzlich die Augen schlossen, die mit verwöhnender Liebe über ihr gewacht hatten.

Frau Heißenstein entschwand eines Morgens wie ein Schatten von der Wand; ohne vorhergegangene sichtbare Krankheit, ohne die geringste Pflege in An­spruch, ohne Abschied genommen zu haben von dem gefürchteten Mann und von dem geliebten Kinde. Be­vor Herr Leopold ahnte, daß auch dieser Verlust ihn bedrohe, erfuhr er ihn.

Und seltsam! Die demütige Frau, welcher er, solan­ge sie lebte, nur eine sehr oberflächliche Beachtung gegönnt hatte, wurde von ihm jetzt so bitter vermißt, als ob sie der Mittelpunkt all seiner Interessen gewe­sen wäre.