Einbäöndige Ausgabe von Des deutschen Spießers Wunderhorn

Gustav Meyrink
»Des deutschen Spießers Wunderhorn«
Novellen- 3 Bänden in einem
492 Seiten,
Preis 25,00 €
ISBN 978-3-86672-080-0

Der violette Tod

Der Tibetaner schwieg.

Die magere Gestalt stand noch eine Zeitlang aufrecht und unbeweglich, dann verschwand sie im Dschungel. – Sir Roger Thornton starrte ins Feuer: Wenn er kein Sannyasin – kein Büßer – gewesen wäre, der Tibetaner, der überdies nach Benares wallfahrte, so hätte er ihm natürlich kein Wort geglaubt – aber ein Sannyasin lügt weder, noch kann er belogen werden. –
Und dann dieses tückische, grausame Zucken im Gesicht des Asiaten!?

Oder hatte ihn der Feuerschein getäuscht, der sich so seltsam in den Mongolenaugen gespiegelt? –

Die Tibetaner hassen den Europäer und hüten eifersüchtig ihre magischen Geheimnisse, mit denen sie die hochmütigen Fremden einst zu vernichten hoffen, wenn der große Tag heranbricht. –

Einerlei, er, Sir Hannibal Roger Thornton, muß mit eigenen Augen sehen, ob okkulte Kräfte tatsächlich in den Händen dieses merkwürdigen Volks ruhen. – Aber er braucht Gefährten, mutige Männer, deren Wille nicht bricht, auch wenn die Schrecken einer anderen Welt hinter ihnen stehen. –

Der Engländer musterte seine Gefährten: – Dort der Afghane wäre der einzige, der in Betracht käme von den Asiaten, – furchtlos wie ein Raubtier, doch abergläubisch! –

Es bleibt also nur sein europäischer Diener. –

Sir Roger berührt ihn mit seinem Stock. – Pompejus Jaburek ist seit seinem zehnten Jahre völlig taub, aber er versteht es, jedes Wort, und sei es noch so fremdartig, von den Lippen seines Herrn zu lesen.

Sir Roger Thornton erzählt ihm mit deutlichen Gesten, was er von dem Tibetaner erfahren: Etwa zwanzig Tagesreisen von hier, in einem genau bezeichneten Seitentale des Himavat, befinde sich ein ganz seltsames Stück Erde. – Auf drei Seiten senkrechte Felswände; – der einzige Zugang abgesperrt durch giftige Gase, die ununterbrochen aus der Erde dringen und jedes Lebewesen, das passieren will, augenblicklich töten. – In der Schlucht selbst, die etwa fünfzig englische Quadratmeilen umfaßt, solle ein kleiner Volksstamm leben – mitten unter üppigster Vegetation –, der der tibetanischen Rasse angehöre, rote spitze Mützen trage und ein bösartiges satanisches Wesen in Gestalt eines Pfaues anbete. – Dieses teuflische Wesen habe die Bewohner im Laufe der Jahrhunderte die schwarze Magie gelehrt und ihnen Geheimnisse geoffenbart, die einst den ganzen Erdball umgestalten sollen; so habe es ihnen auch eine Art Melodie beigebracht, die den stärksten Mann augenblicklich vernichten könne. –

Pompejus lächelte spöttisch.

Sir Roger erklärte ihm, daß er gedenke, mit Hilfe von Taucherhelmen und Tauchertornistern, die komprimierte Luft enthalten sollen, die giftigen Stellen zu passieren, um ins Innere der geheimnisvollen Schlucht zu dringen. –
Pompejus Jaburek nickte zustimmend und rieb sich vergnügt die schmutzigen Hände.

–––––––––––––––––––––––––––– Der Tibetaner hatte nicht gelogen: Dort unten lag im herrlichsten Grün die seltsame Schlucht; ein gelbbrauner, wüstenähnlicher Gürtel aus lockerem, verwittertem Erdreich – von der Breite einer halben Wegstunde – schloß das ganze Gebiet gegen die Außenwelt ab.

Das Gas, das aus dem Boden drang, war reine Kohlensäure.

Sir Roger Thornton, der von einem Hügel aus die Breite dieses Gürtels abgeschätzt hatte, entschloß sich, bereits am kommenden Morgen die Expedition anzutreten. – Die Taucherhelme, die er sich aus Bombay hatte schicken lassen, funktionierten tadellos. –

Pompejus trug beide Repetiergewehre und diverse Instrumente, die sein Herr für unentbehrlich hielt. –

Der Afghane hatte sich hartnäckig geweigert mitzugehen und erklärt, daß er stets bereit sei, in eine Tigerhöhle zu klettern, sich es aber sehr überlegen werde, etwas zu wagen, was seiner unsterblichen Seele Schaden bringen könne. –

So waren die beiden Europäer die einzigen Wagemutigen geblieben. –