Bruno Waldvogel-Frei
»Jeder Tag ein Fenster –
Basler Adventsgeschichten«
124 Seiten – Preis 9,95 €
ISBN 978-3-930730-41-4
Der Wecker
Es war einmal ein Wecker. So ein richtig schöner grosser Wecker. Einer von den altmodischen, den man immer wieder aufziehen muss. Und wenn man sie vergißt, dann bleiben sie plötzlich stehen. Jahrelang hatte also unser Wecker treu seine Dienste getan. Zum Glück war er sehr stark gebaut. Am Morgen bekam er von seinem Besitzer regelmässig eins auf den Deckel. Naja, man gewöhnt sich daran! Nicht sehr erfreulich, aber als Wecker gehört das eben zum Leben. Öfters vergass man ihn aufzuziehen. Und dann musste er stundenlang warten, bis endlich jemand mit ihm Erbarmen hatte. Auch daran gewöhnte man sich. Treu erfüllte er seine Pflicht all die Jahre hindurch. Aber mit der Zeit wurde es ihm einfach zu viel. „Was spielt es für eine Rolle, was ich tue?! Treu tue ich meinen Dienst. Auf die Sekunde genau drehe ich meine Rädchen. Und exakt nach 3775 Umdrehungen wecke ich meinen Besitzer. Ich gebe mir alle erdenkliche Mühe, nicht so schrill und hart zu tönen. Ich schmuggle sogar immer etwas Staub unter die Glocken, damit sie sanfter klingen. Aber was ist der Lohn dafür? Jeden Morgen gibt es Schläge. Oder noch schlimmer: ich mache einen Sturzflug an die Wand! Häufig vergisst man mich aufzuziehen. Und wann immer ich läute, höre ich nur Gejammer und Gestöhn! Was ist das für ein trauriges Leben! Ich habe es satt!“
Der Wecker hatte eine Idee. „Wenn ich schon so schwer arbeiten muss, dann sollte sich meine Arbeit doch auch lohnen. Von jetzt an läute ich nur noch, wenn es gute Gründe dafür gibt. Z.B. wenn es sich lohnt, morgens aufzustehen, weil ein freudiges Ereignis bevorsteht. Oder wenn es besser wäre, aufzuhören zu streiten. Oder wenn man sich an einen Geburtstag erinnern sollte.“ Gesagt getan.
Man kann sich vorstellen, dass ziemliche Verwirrung in das Haus kam. Die Kinder fanden das völlig lustig. Die Erwachsenen aber gar nicht. So kam es, wie es kommen musste. Als rütteln, schütteln, reparieren und aufziehen nichts halfen, zog eines Tages ein neuer eleganter Wecker mit Radio ein. Und alles war wieder beim Alten. Unser Wecker landete im Kinderzimmer. Aber dort gefiel es ihm zum erstenmal in seinem Leben. Immer wenn es gute Zeit war, läutete er von ganzem Herzen. Die Atmosphäre war wunderbar im Kinderzimmer, denn die Kinder hatten verstanden, was er sagen wollte.
Zum Nachdenken
Es gibt zwei Arten, die Zeit zu zählen. Die Art, die uns allen bekannt ist: das Kalenderjahr. Diese Art der Zeitrechnung wird heute mit Atomuhren so exakt betrieben, dass man das Gefühl hat, dass wir alles, was die Zeit betrifft, im Griff haben.
Und nun gibt es noch eine zweite Art, die Zeit zu zählen. Und daran erinnert uns der Advent. Die Jahreszählung in der Kirche fängt nicht am 1. Januar an, sondern am 1. Advent. Typisch Kirche – einmal mehr ganz neben den Schuhen und ganz und gar nicht dort, wo das alltägliche Leben beginnt!