Der Fuchs und die Sibylle

Paul Keller
»Ferien vom Ich«
Nachwort von Rudolf Wolff
Roman
Hardcover, 292 Seiten, Preis 18,00 €
ISBN 978-3-86672-122-7

Es war Abend, als ich am Grundhof vorbeischlich und mich an der Reihe windbrüchiger Weiden, die am alten Waltersburger Weg stehen, hinab zum Hause der Sibyl­le schlängelte. Das kleine Anwesen sah schäbig und unordentlich aus. Die Tür stieß einen grämlichen Quieker aus, als ich eintrat. Der Hausflur war finster, aber in dem daranstoßenden Zimmer, dessen Fenster mit buntem Kattun verhängt waren, brannte eine kleine Lampe. Die »Sibylle« erhob sich und kam mir entgegen. Mit krum­mem Rücken, auf einen Stock gestützt, hob sie ihr ver­runzeltes Gesicht, das in dem trüben Lichte der kleinen Lampe ganz gespenstisch aussah, zu mir empor.

»Wird er kommen?« fragte sie.

»Ich weiß es nicht. Aber ich hoffe es; denn ich habe es ihm kräftig eingeredet. Ich gehe einstweilen in die Nebenstube und passe auf. Halten Sie sich genau an unsere Abmachungen.«

»Jawohl!« nickte das Weib.

Ich musste eine Stunde lang warten und gab den Plan, den ich gefasst hatte, beinahe auf. Noch zweimal hatte Stefenson heute von der Wahrsagerin angefangen, und ich hatte ihm einige sehr merkwürdige Fälle erzählt, in denen die Voraussagungen der Sibylle in verblüffender Weise eingetroffen waren. Nun kam er doch nicht. Schon wollte ich meinen Lauscherposten verlassen, da sah ich den alten Fuchs um die Wegkrümmung treten und vor­sichtig umherspähen.

»Er kommt!« sagte ich zu der Sibylle durch die Tür. »Nun machen Sie Ihre Sache gut.«

Fünf Minuten später hörte ich nebenan Stefenson ein­treten.

»Guten Abend«, sagte er etwas verlegen. »Ich komme mal zu Ihnen. Sie brauchen sich deswegen nicht etwa einzubilden, dass ich auf Ihren Quatsch etwas gebe; aber ich habe von Ihnen gehört, und da will ich mal einen Versuch machen – der Wissenschaft halber, verstehen Sie?«

Die Sibylle rührte sich nicht. Sie sah greulich aus. Die Gestalt war in ein geflicktes Umschlagetuch gehüllt, vor Stirn und Augen hatte sie einen grünen Lichtschirm, über dem der graue Scheitel struppig herausragte. Das alte Weib betrachtete ihre ausgebreiteten schmutzigen Kar­ten und sagte kein Wort.

»Nun?« mahnte Stefenson ungeduldig.
Keine Antwort.
»Ja, wollen Sie nun gefälligst mit mir sprechen?« brau­
ste der Amerikaner auf.
»Scheren Sie sich hinaus!« krächzte die Alte. »Wa–as?«
»Hinausscheren sollen Sie sich!« wiederholte der häss
liche Rabe.

»Das ist stark!« sagte Stefenson verblüfft. »Nun bleibe ich natürlich hier!«

Er schob sich den wackligen Stuhl, der an der Wand lehnte, zurecht und sah mit stoischer Ruhe zu, wie das alte Weib ihre Karten mischte und legte, ohne ihn auch nur im geringsten zu beachten. Ich vergnügte mich an meinem Guckloche königlich.

Endlich stand Stefenson auf, legte auf die Tischkante eine Münze und sagte mit erzwungener Höflichkeit:

»Madame, ich möchte gern durch Ihre Kunst meine Zukunft erfahren.«

»Warten Sie!« schnarrte der Rabe.

Und Stefenson wartete. Sibylle betrachtete indes unverwandt ihre Karten. Endlich schien sie fertig zu sein. Sie warf einen Blick auf das Geldstück und sagte: »Auf zwanzig Mark kann ich nicht herausgeben. Es kostet fünfundzwanzig Pfennig.«

»Behalten Sie nur das Goldstück«, erwiderte Stefenson. Da schnipste sie mit dem Finger die Münze vom Ti­sche hinab auf den Fußboden und kreischte wütend:

»Fünfundzwanzig Pfennig kostet es!«

Stefenson kramte in einer Westentasche und legte fünfundzwanzig Pfennig auf den Tisch.

»Stecken Sie das Goldstück ein!« befahl die Alte. Stefenson leuchtete mit Streichhölzern gehorsam den Fuß­boden ab, bis er die Goldmünze fand, und steckte sie ein. Darauf mischte Sibylle die Karten, ließ Stefenson dreimal abheben und sagte:

»Sie sind neunundvierzig Jahre alt!« Stefenson lachte ärgerlich. »Neununddreißig bin ich.«
»So sehen Sie nicht aus!«

Darauf wurden die Karten auf den Tisch gebreitet.

»Richtig – erst neununddreißig«, sagte die Wahrsage­ rin.

»Am 14. April geboren.«
»Das stimmt!« rief Stefenson verblüfft.

»Es stimmt alles, was ich sage«, knurrte die Alte.

»Sie haben weder Vater noch Mutter, Bruder noch Schwester. Sie sind nicht aus diesem Lande, Sie sind über das Wasser gekommen.«

Stefenson setzte sich staunend auf den Stuhl.

»Sie sind sehr reich«, fuhr die Alte fort, »und werden immer reicher werden; aber Sie haben Unglück in der Liebe.«

»Ja«, murmelte Stefenson.
»Ihre Braut heiratet einen anderen.«
»Ist das wahr?«
»Ja. Aber Sie sind selbst schuld; Sie haben Ihre Braut

schlecht behandelt und sie betrogen.«
Stefenson stöhnte leise. Die Alte fuhr fort:
»Wenn Sie sich mit dem neuen Bräutigam Ihrer Braut

duellieren, werden Sie ihn töten.«
»A–ah!«
»Ja, aber es wird Ihnen schlimm ergehen, weil er ein

vornehmer Herr ist, und das Mädchen wird doch einen anderen nehmen.«

»Wird sie glücklich werden?« fragte Stefenson.

»Sie wird mit jedem Manne glücklich werden, den sie nimmt. Nur mit Ihnen wäre sie unglücklich geworden.«

»Das ist nicht wahr!« rief Stefenson.

»Das ist ebenso wahr, als dass Sie nach einem Jahre eine reiche Amerikanerin heiraten werden.«

»Schwindel!« rief Stefenson erbost. »Ich werde nie eine andere heiraten. Sie schwafeln da einen ungeheuren Blödsinn zusammen «

»Scheren Sie sich hinaus!« kreischte der Rabe wütend und klappte die Karten zusammen.

»Ich bitte, dass Sie weitersprechen«, beruhigte sich Stefenson gewaltsam.

Die Alte aber erhob sich und humpelte der Nachbartür zu.

»Bleiben Sie da«, rief Stefenson; »ich habe doch fünfundzwanzig Pfennig bezahlt.«

Sie gab keine Antwort, verschwand hinter der Tür und schob den Riegel vor.

In diesem Augenblick sprang ich im Nebenzimmer aus dem Fenster hinaus in den Garten, ging ums Haus herum und trat durch den Flur in die Vorderstube.

Als Stefenson und ich uns sahen, prallten wir voreinander zurück.

»Sie – Doktor?«
»Sie – Stefenson?«
Er lachte außerordentlich verlegen. Leise sagte er:

»Aber wissen Sie – nur der Wissenschaft halber …«
»Ja – ich natürlich auch nur der Wissenschaft halber.

Waren Sie schon dran?«