Annette Kolb

Jürgen Schwalm
»›Ich mußte es auf meine Weise sagen‹. Annette Kolb – Leben und Werk«
56 Seiten – Preis 5,95 €
ISBN 978-3-86672-019-0

Die Annäherung an einen Autor erfolgt oft durch Schlüsselerlebnisse. Ereignen sie sich im richtigen Augenblick, können wir den Autor zum Weggefährten unseres Lebens machen. Der Autor täuscht sich, wenn er meint, er hätte uns durch seine Werke geködert. Es ist immer der Leser, der den Autor für sich erobert.

Die Strategie des Lesers: Einkreisung des Autors von außen nach innen in konzentrischen Ringen, deren Radien sich unter Ausnutzung der Zentripetalkräfte verkleinern. Und schon haben wir den Autor gefangen. Was auch immer geschehen mag: Von nun an kann er uns nicht mehr enttäuschen. Wir wollen ihn so für uns behalten, wie er ist, mit seinen Stärken und Schwächen, mit seinen Niederlagen und Siegen.

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Das lateinische Wort Poeta für Dichter. Es hat eine a-Endung, bei der das grammatische Geschlecht mit dem natürlichen übereinstimmen kann, und von einer Frau soll heute die Rede sein, die als Autorin ihren Mann stand, ohne das Vorrecht aufzugeben, dabei eine Frau zu bleiben: ANNETTE KOLB.
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Mein Schlüsselerlebnis ist musikalischer Natur. Das Thema hat Variationen. Eine junge Künstlerin aus Frankreich gibt einen Klavierabend in Kiel. Späte Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, also auch schon vor Äonen. Ich stehe vor einem medizinischen Examen, müsste pauken und habe doch den Zwang, etwas anderes zu tun. Mein Freund Pierre überredet mich, mit ihm das Konzert zu besuchen. Er ist Franzose, Germanist.

Die junge Pianistin beginnt mit Mozarts Sonate A-Dur KV 331, die „mit dem türkischen Marsch“. Sie erinnern sich: der erste Satz ist ein Andante grazioso und das Thema eine zärtliche Tändelei, eine kleine Liebelei.

Ich lausche und erinnere Bilder dabei aus einem Kinofilm. Göttingen, Nachkriegszeit 1946. Wir stehen um drei Häuserblocks Schlange, um der Misere des Alltags für anderthalb Stunden zu entfliehen. Der Mozart-Film heißt WEN DIE GÖTTER LIEBEN und entstand noch im Krieg. „Wen die Götter lieben, den holen sie früh heim“. Mit diesem Worten wird am Schluss des Films Constanze Mozart getröstet, dargestellt von Winnie Markus. Hans Holt spielt Mozart, sieht aus wie ein onduliertes Mannequin und stirbt wunderschön; am Schluss verklärt sich sein Gesicht und wird zur Totenmaske. Da fließen die Tränen; da ist der Alltag leider schon wieder da. Und die Filmhandlung erscheint im Nachhinein so verlogen. Aber selbst eine noch so verfälschte Handlung kann Mozarts Musik nichts anhaben; die herrlichen Melodien erheben sich doch immer mit kräftigen Flügelschlägen aus der Asche aller Unzulänglichkeiten.
Gleich im Film-Vorspann wird das Andante grazioso der A-Dur–Sonate angespielt, eine zärtliche Tändelei, eine kleine Liebelei, und für den, den die Götter lieben, darf Erna Berger die „Königin der Nacht“ singen, bevor er zu den Göttern heimgeholt wird. Die Königin der Sängerinnen steigt mit ihren prachtvollen Koloraturen aus spiegelnder Kulisse zum sterbenden Mozart hinab.

All das fällt mir wieder ein, die Nachkriegs- zeit und der Film, während die junge Pia- nistin die A-dur-Sonate interpretiert. Nach dem Kieler Konzert komme ich noch mit in Pierres Wohnung zu einem Glas Rotwein und wir sprechen über Mozart und ich sage: „Ich weiß eigentlich so wenig über Mozart; vielmehr: ich weiß das Wesentliche nicht.“