Kielland, Else (Weihnachtsgeschichte)

12,50 

Alexander L. Kielland
»Else – Eine 
Weihnachtsgeschichte«
Übersetzt von Marie Leskien-Lie und Dr. Friedrich Leskien.
Herausgegeben, bearbeitet und mit einem Nachwort versehen von Rudolf Wolff
Werke in Einzelbänden, Band 2
94 Seiten – Preis: 12,50 €
ISBN 978-3-86672-130-2

Alexander Lange Kielland war zu seiner Zeit so etwas wie das soziale Gewissen Norwegens. In dieser Novelle prangert er die Scheinfrömmigkeit des Bürgertums an, dessen sogenannte christliche Nächstenliebe nichts anderes war als der Versuch, sich anläßlich christlicher Feste mit Almosen das Gewissen freizukaufen.

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Beschreibung

Leseprobe:

I

Madame Späckbom besaß ein Haus, das die Arche Noah genannt wurde. Unten in den warmen, behaglichen Zimmern auf der Sonnenseite wohnte sie selbst; oben wohnte Fräulein Falbe mit ihrem Bruder; und auf dem Boden – es gab nur zwei Etagen – in Dachkammern unter Treppen und hinter Schornstei­nen lebten zwielichtige Gestalten, die den gemeinsamen Namen ›die Bande‹ führten.

Madame Späckbom war nicht nur eine kluge Frau; sie war buchstäblich ›die kluge Frau‹; denn sie war Dok­tor – oder Quacksalberin, wie der richtige Doktor sie nannte.

Doch das berührte die Madame nicht sonderlich; sie hatte ihre gute, sichere Praxis, und ihre Kunst brachte ihr sowohl Geld wie wissenschaftliche Triumphe ein.

Der Teil der Bevölkerung, der Madame Späckbom aufsuchte, war allerdings nicht der vornehmste, aber ohne Zweifel der zahlreichste. Es konnte vorkommen, daß sie fünf bis sechs Patienten bei sich in Behandlung hatte, in Zimmerchen und Verschlägen, von denen es in dem alten Haus eine unglaubliche Menge gab; und besonders abends nach der Arbeitszeit war sie vollauf damit beschäftigt, Krankenbesuche zu machen oder Pa­tienten jeder Art zu empfangen.

Wenn unter diesen sich einer fand, der in der Be­handlung des richtigen Doktors, des Bezirksarztes Bent­zen, gewesen war, da leuchtete es in Madame Späck­boms kleinen braunen Augen auf, und sie schüttelte die drei Hängelocken, die auf einem Kamm über jedem Ohr hingen, indem sie jedem sagte: »Wenn Sie von so einem gelehrten Herrn kommen, kann Ihnen doch sicher nicht von einem alten, zahnlosen Weib geholfen werden.«

Da mußte lange verhandelt werden, ehe sie sich des Patienten erbarmte, aber nahm sie ihn erst in Behand­lung, so gab sie sich ganz besondere Mühe mit denen, die der richtige Doktor ›aufgegeben hatte‹.

Und unter den Leuten der Stadt – ja sogar unter den feinen – waren unzählige Geschichten von den wunder­baren Kuren der Madame im Umlauf; und man brauch­ te nur ihren Namen vor Dr. Bentzen zu nennen, da fuhr der alte Herr in die Höhe, fluchte und wetterte – feuer­rot im Gesicht, nahm er seinen Hut und eilte davon.

Die Sache war die, daß sich Doktor Bentzen nie, wenn er zu einfachen Leuten kam, darauf einließ, eine Erklärung zu geben – dazu verachtete er die Unwissen­heit zu sehr. Er sagte nur: So und so sollst du es machen, und hier ist die Medizin.

Aber wenn die Medizin nicht gleich half – und das kann bei der besten Medizin passieren –, dann bekamen die Leute das teure Apothekerwasser und diesen stren­gen Doktor satt, der nur ins Zimmer kam, eine Anord­nung gab und ging.

Und dann kam die Reihe an Madame Späckbom.

Sie setzte sich hin und erklärte ausführlich, was ei­gentlich dem Patienten fehlte; entweder war es eine Art Gifthauch, zum Beispiel von der Erde oder vom Wasser oder vielleicht von einer Leiche, oder es war ein Bluts­ tropfen, der sich festgesetzt hatte, oder etwas Ähnliches.

Nun, das war etwas, was man begreifen konnte; und wenn man dann Medizin von der Madame erhielt, so waren es Sachen, die einen ebenso scharfen Geruch wie Geschmack hatten, so daß man merken konnte, es war weder Schwindel noch Betrug dabei.

Und wenn es auch nicht immer half, so war es ja eine Sache, die sie alle wußten, daß selbst Madame Späckbom nicht über Leben und Tod gebiete; aber es war doch we­nigstens getan, was getan werden konnte, und das war doch immer besser, als von der verdächtigen Gelehr­samkeit des Doktors ins Jenseits befördert zu werden, wie es so vielen ergangen war. Und außerdem war die Madame viel, viel billiger.

Zur Hilfe in ihrer Praxis hatte sie ein junges Mäd­chen, das Floh genannt wurde. Die Madame hatte es zu sich genommen, nachdem sie es von einer schlimmen Augenkrankheit geheilt hatte.

Floh hatte keine Eltern. Sie hieß Else. Einen Nach­namen hatte sie, glaube ich, nie gehabt. Denn sie war die Tochter eines der feinsten Herren in der Stadt, dessen Name in diesem Zusammenhang nicht im Kirchenbuch stehen konnte.

In einer Kinderbewahranstalt war Floh aufgewach­sen, nachdem die Mutter – ein Dienstmädchen – ge­storben war. Und hier hatte sie auch ihren Spitznamen erhalten.

Er stammte von einem dunkelbraunen Mantel, den sie bei einer Weihnachtsbescherung bekommen hatte. Er war ursprünglich sehr lang und weit gewesen, und wenn das Kind ihn umhängte und darin umhersprang, glich es einem Floh. Schließlich kam jemand auf die witzige Idee, dem Mädchen diesen Namen zu geben.

Und dieser Mantel war aus einem so unverwüstli­chen Stoff, daß er Floh durch die ganze Kindheit beglei­tete – erst als Mantel, später als Jacke, dann als Mieder und schließlich als Mütze mit rosaroten Kinnbändern.

Sie trug noch diese Kindermütze mit rosaroten Kinn­ bändern, als sie die Augenkrankheit bekam. Bentzen, als der Arzt der Anstalt, pfuschte ein halbes Jahr an ihr her­ um, bis sie wie ein kleines Tier in einem dunklen Winkel lag und schrie, wenn man sie gegen das Licht wandte.

Da keine Besserung zu erkennen war, gab Fräulein Falbe sie heimlich in Madame Späckboms Behandlung, und wie es auch zugegangen sein mochte: Das Kind er­holte sich.

Doktor Bentzen triumphierte: Endlich war es ihm geglückt, der hartnäckigen Entzündung Herr zu werden! Doch da konnte Madame Späckbom nicht länger schweigen, und es entstand ein großer Skandal. Fräu­lein Falbe mußte aus der Direktion der Anstalt austre­ten, wo sie übrigens schon sowieso gründlich verhaßt war; Doktor Bentzen war wütend, und selbst die kleine

Else mußte für ihre neuen, glänzenden Augen leiden. Kurz entschlossen nahm Madame Späckbom das Kind zu sich, teils weil sie wohlwollend und gutherzig war, teils weil Elses glänzende Augen für ihre Fähigkeit als Augenarzt sprachen, und endlich brauchte sie das

Kind, um Doktor Bentzen damit zu ärgern.

Nie konnte er an der Arche vorbeigehen – und sein Weg führte ihn oft am Tag daran vorbei –, ohne daß Madame Späckbom das Kind nahm, es ins Fenster hin­ aufsetzte und ihm einen Puff in den Nacken gab, damit es dem Doktor zunicken sollte. Und wenn sie ihn dann dazu bringen konnte, mit seinem giftigen Grinsen her­ einzusehen, da schüttelte Madame Späckbom trium­phierend ihre sechs Hängelocken und gab Floh ein Stück Zucker.

Als sie heranwuchs, wurde Else ein zartes, schlankes Mädchen – blond und ein wenig blaß, aber trotzdem ge­sund. Sie hatte einen heiteren, leichten Sinn und eine be­sondere Art, sich und alles um sich her nett und ordent­lich zu halten. Aber als Madame Späckbom anfangen wollte, sie waschen, scheuern, nähen und sich nützlich machen zu lassen, erwies sich Floh als völlig untauglich; sie bekam überall Schmerzen, und sämtliche guten Rat­schläge und die bitteren Kräuter der Madame blieben ohne Wirkung.

Madame Späckbom war, wie gesagt, auch eine kluge Frau. Sie verstand sich gut auf diese Krankheit, die sich pünktlich zu den Scheuertagen einstellte und immer wie durch Zauberei am Sonntagmorgen verschwand. Aber da sie einsah, daß die Krankheit hier in einer un­heilbaren Form auftrat, beschränkte sie sich darauf, ihre herunterhängenden Locken zu schütteln und et­was von ›diesem verdammt feinen Blut‹ zu murmeln.

Die Kranken liebten Floh, obgleich sie eigentlich kei­ne treue oder aufopfernde Krankenpflegerin war. Aber wenn sie nur durch das Zimmer ging oder den Kopf zur Tür hereinsteckte, war es, als ob Schmerzen oder Lange­weile abnahmen; und Madame Späckbom war sich wohl bewußt, welchen Anteil an ihren Kuren sie Flohs lusti­gem Lachen verdankte.

Denn es war ein Lachen, das ganz anders war als jedes Lachen, das man je zuvor in der Arche Noah ge­hört hatte. Es konnte die Treppen hinauf und bis in den Keller hinunterlaufen, durch das Schlüsselloch hinein zu den Kranken und den Leuten bis ins Herz hinein, so daß einige ganz warm wurden und andere mitlachen muß­ten; und alle wollten, was es auch sein mochte, darum geben, Floh lachen zu hören.

Und sie lachte grundlos über alles und nichts, wie es sich gerade traf. Sie hatte rote Lippen und frische, ge­sunde Zähne; aber die Augen überstrahlten alles – sie waren Madame Späckboms Stolz; denn der gelehrte Doktor hatte sie ja aufgegeben.

Madame Späckboms Arche war nicht so sorgfältig gebaut wie die Noahs. Es glich eher einem alten Rum­pelkasten von einem Haus, das nur stehenblieb, weil es mit einem neueren und festeren zusammengebaut war. Aber da es, wie alles Alte, sich nicht dareinfinden konn­te, sich von der Jugend stützen zu lassen, warf es sich immer mehr auf die Seite, um gegen die Verbindung zu protestieren; und so hing es nach und nach drohend über den steilen Abhang hinaus, der auf der Ostseite nach dem Hafen und den Landungsbrücken hinunter­ führte.

Der Autor:

Alexander Lange Kielland

Geboren am 18. Februar 1849 in Stavanger, Norwegen
Gestorben am 6. April 1906 in Bergen, Norwegen

Kielland wurde, wie er nicht ohne Stolz immer wieder betonte, im Revolutionsjahr 1848 gezeugt. Dieser Tatsache maß er – augenzwinkernd – einige Bedeutung für seinen Lebenslauf zu. Er stammte aus einer alten Patrizierfamilie in Stavanger, einem der reichsten und kultiviertesten Handelshäuser Norwegens.

Eine ausführliche Biographie lesen Sie hier…