Beschreibung
I
Madame Späckbom besaß ein Haus, das die Arche Noah genannt wurde. Unten in den warmen, behaglichen Zimmern auf der Sonnenseite wohnte sie selbst; oben wohnte Fräulein Falbe mit ihrem Bruder; und auf dem Boden – es gab nur zwei Etagen – in Dachkammern unter Treppen und hinter Schornsteinen lebten zwielichtige Gestalten, die den gemeinsamen Namen ›die Bande‹ führten.
Madame Späckbom war nicht nur eine kluge Frau; sie war buchstäblich ›die kluge Frau‹; denn sie war Doktor – oder Quacksalberin, wie der richtige Doktor sie nannte.
Doch das berührte die Madame nicht sonderlich; sie hatte ihre gute, sichere Praxis, und ihre Kunst brachte ihr sowohl Geld wie wissenschaftliche Triumphe ein.
Der Teil der Bevölkerung, der Madame Späckbom aufsuchte, war allerdings nicht der vornehmste, aber ohne Zweifel der zahlreichste. Es konnte vorkommen, daß sie fünf bis sechs Patienten bei sich in Behandlung hatte, in Zimmerchen und Verschlägen, von denen es in dem alten Haus eine unglaubliche Menge gab; und besonders abends nach der Arbeitszeit war sie vollauf damit beschäftigt, Krankenbesuche zu machen oder Patienten jeder Art zu empfangen.
Wenn unter diesen sich einer fand, der in der Behandlung des richtigen Doktors, des Bezirksarztes Bentzen, gewesen war, da leuchtete es in Madame Späckboms kleinen braunen Augen auf, und sie schüttelte die drei Hängelocken, die auf einem Kamm über jedem Ohr hingen, indem sie jedem sagte: »Wenn Sie von so einem gelehrten Herrn kommen, kann Ihnen doch sicher nicht von einem alten, zahnlosen Weib geholfen werden.«
Da mußte lange verhandelt werden, ehe sie sich des Patienten erbarmte, aber nahm sie ihn erst in Behandlung, so gab sie sich ganz besondere Mühe mit denen, die der richtige Doktor ›aufgegeben hatte‹.
Und unter den Leuten der Stadt – ja sogar unter den feinen – waren unzählige Geschichten von den wunderbaren Kuren der Madame im Umlauf; und man brauch te nur ihren Namen vor Dr. Bentzen zu nennen, da fuhr der alte Herr in die Höhe, fluchte und wetterte – feuerrot im Gesicht, nahm er seinen Hut und eilte davon.
Die Sache war die, daß sich Doktor Bentzen nie, wenn er zu einfachen Leuten kam, darauf einließ, eine Erklärung zu geben – dazu verachtete er die Unwissenheit zu sehr. Er sagte nur: So und so sollst du es machen, und hier ist die Medizin.
Aber wenn die Medizin nicht gleich half – und das kann bei der besten Medizin passieren –, dann bekamen die Leute das teure Apothekerwasser und diesen strengen Doktor satt, der nur ins Zimmer kam, eine Anordnung gab und ging.
Und dann kam die Reihe an Madame Späckbom.
Sie setzte sich hin und erklärte ausführlich, was eigentlich dem Patienten fehlte; entweder war es eine Art Gifthauch, zum Beispiel von der Erde oder vom Wasser oder vielleicht von einer Leiche, oder es war ein Bluts tropfen, der sich festgesetzt hatte, oder etwas Ähnliches.
Nun, das war etwas, was man begreifen konnte; und wenn man dann Medizin von der Madame erhielt, so waren es Sachen, die einen ebenso scharfen Geruch wie Geschmack hatten, so daß man merken konnte, es war weder Schwindel noch Betrug dabei.
Und wenn es auch nicht immer half, so war es ja eine Sache, die sie alle wußten, daß selbst Madame Späckbom nicht über Leben und Tod gebiete; aber es war doch wenigstens getan, was getan werden konnte, und das war doch immer besser, als von der verdächtigen Gelehrsamkeit des Doktors ins Jenseits befördert zu werden, wie es so vielen ergangen war. Und außerdem war die Madame viel, viel billiger.
Zur Hilfe in ihrer Praxis hatte sie ein junges Mädchen, das Floh genannt wurde. Die Madame hatte es zu sich genommen, nachdem sie es von einer schlimmen Augenkrankheit geheilt hatte.
Floh hatte keine Eltern. Sie hieß Else. Einen Nachnamen hatte sie, glaube ich, nie gehabt. Denn sie war die Tochter eines der feinsten Herren in der Stadt, dessen Name in diesem Zusammenhang nicht im Kirchenbuch stehen konnte.
In einer Kinderbewahranstalt war Floh aufgewachsen, nachdem die Mutter – ein Dienstmädchen – gestorben war. Und hier hatte sie auch ihren Spitznamen erhalten.
Er stammte von einem dunkelbraunen Mantel, den sie bei einer Weihnachtsbescherung bekommen hatte. Er war ursprünglich sehr lang und weit gewesen, und wenn das Kind ihn umhängte und darin umhersprang, glich es einem Floh. Schließlich kam jemand auf die witzige Idee, dem Mädchen diesen Namen zu geben.
Und dieser Mantel war aus einem so unverwüstlichen Stoff, daß er Floh durch die ganze Kindheit begleitete – erst als Mantel, später als Jacke, dann als Mieder und schließlich als Mütze mit rosaroten Kinnbändern.
Sie trug noch diese Kindermütze mit rosaroten Kinn bändern, als sie die Augenkrankheit bekam. Bentzen, als der Arzt der Anstalt, pfuschte ein halbes Jahr an ihr her um, bis sie wie ein kleines Tier in einem dunklen Winkel lag und schrie, wenn man sie gegen das Licht wandte.
Da keine Besserung zu erkennen war, gab Fräulein Falbe sie heimlich in Madame Späckboms Behandlung, und wie es auch zugegangen sein mochte: Das Kind erholte sich.
Doktor Bentzen triumphierte: Endlich war es ihm geglückt, der hartnäckigen Entzündung Herr zu werden! Doch da konnte Madame Späckbom nicht länger schweigen, und es entstand ein großer Skandal. Fräulein Falbe mußte aus der Direktion der Anstalt austreten, wo sie übrigens schon sowieso gründlich verhaßt war; Doktor Bentzen war wütend, und selbst die kleine
Else mußte für ihre neuen, glänzenden Augen leiden. Kurz entschlossen nahm Madame Späckbom das Kind zu sich, teils weil sie wohlwollend und gutherzig war, teils weil Elses glänzende Augen für ihre Fähigkeit als Augenarzt sprachen, und endlich brauchte sie das
Kind, um Doktor Bentzen damit zu ärgern.
Nie konnte er an der Arche vorbeigehen – und sein Weg führte ihn oft am Tag daran vorbei –, ohne daß Madame Späckbom das Kind nahm, es ins Fenster hin aufsetzte und ihm einen Puff in den Nacken gab, damit es dem Doktor zunicken sollte. Und wenn sie ihn dann dazu bringen konnte, mit seinem giftigen Grinsen her einzusehen, da schüttelte Madame Späckbom triumphierend ihre sechs Hängelocken und gab Floh ein Stück Zucker.
Als sie heranwuchs, wurde Else ein zartes, schlankes Mädchen – blond und ein wenig blaß, aber trotzdem gesund. Sie hatte einen heiteren, leichten Sinn und eine besondere Art, sich und alles um sich her nett und ordentlich zu halten. Aber als Madame Späckbom anfangen wollte, sie waschen, scheuern, nähen und sich nützlich machen zu lassen, erwies sich Floh als völlig untauglich; sie bekam überall Schmerzen, und sämtliche guten Ratschläge und die bitteren Kräuter der Madame blieben ohne Wirkung.
Madame Späckbom war, wie gesagt, auch eine kluge Frau. Sie verstand sich gut auf diese Krankheit, die sich pünktlich zu den Scheuertagen einstellte und immer wie durch Zauberei am Sonntagmorgen verschwand. Aber da sie einsah, daß die Krankheit hier in einer unheilbaren Form auftrat, beschränkte sie sich darauf, ihre herunterhängenden Locken zu schütteln und etwas von ›diesem verdammt feinen Blut‹ zu murmeln.
Die Kranken liebten Floh, obgleich sie eigentlich keine treue oder aufopfernde Krankenpflegerin war. Aber wenn sie nur durch das Zimmer ging oder den Kopf zur Tür hereinsteckte, war es, als ob Schmerzen oder Langeweile abnahmen; und Madame Späckbom war sich wohl bewußt, welchen Anteil an ihren Kuren sie Flohs lustigem Lachen verdankte.
Denn es war ein Lachen, das ganz anders war als jedes Lachen, das man je zuvor in der Arche Noah gehört hatte. Es konnte die Treppen hinauf und bis in den Keller hinunterlaufen, durch das Schlüsselloch hinein zu den Kranken und den Leuten bis ins Herz hinein, so daß einige ganz warm wurden und andere mitlachen mußten; und alle wollten, was es auch sein mochte, darum geben, Floh lachen zu hören.
Und sie lachte grundlos über alles und nichts, wie es sich gerade traf. Sie hatte rote Lippen und frische, gesunde Zähne; aber die Augen überstrahlten alles – sie waren Madame Späckboms Stolz; denn der gelehrte Doktor hatte sie ja aufgegeben.
Madame Späckboms Arche war nicht so sorgfältig gebaut wie die Noahs. Es glich eher einem alten Rumpelkasten von einem Haus, das nur stehenblieb, weil es mit einem neueren und festeren zusammengebaut war. Aber da es, wie alles Alte, sich nicht dareinfinden konnte, sich von der Jugend stützen zu lassen, warf es sich immer mehr auf die Seite, um gegen die Verbindung zu protestieren; und so hing es nach und nach drohend über den steilen Abhang hinaus, der auf der Ostseite nach dem Hafen und den Landungsbrücken hinunter führte.
Der Autor:
Alexander Lange Kielland
Geboren am 18. Februar 1849 in Stavanger, Norwegen
Gestorben am 6. April 1906 in Bergen, Norwegen
Kielland wurde, wie er nicht ohne Stolz immer wieder betonte, im Revolutionsjahr 1848 gezeugt. Dieser Tatsache maß er – augenzwinkernd – einige Bedeutung für seinen Lebenslauf zu. Er stammte aus einer alten Patrizierfamilie in Stavanger, einem der reichsten und kultiviertesten Handelshäuser Norwegens.