Barlach

H. J. Sandberg
»›Ewig derselbe in immer anderer Form‹. Barlach im Banne des Schwebenden«
48 Seiten, Preis 5,95 €
ISBN 978-3-86672-020-6

Barlach im Banne des Schwebenden

Bedenkt das Dunkel und die große Kälte
in diesem Tale, das von Jammer schallt.
Bertolt Brecht

I

„Die Bewegungen des Geistes, ihr plötzliches Aufblitzen, ihre Verbreitung, ihr Innehalten sind und bleiben unsern Augen wenigstens insoweit ein Rätsel, als wir von den dabei tätigen Kräften immer nur diese und jene, aber niemals alle kennen.“ Jacob Burckhardts Satz, die Bewegungen des Geistes im allgemeinen betreffend, dürfte ebenso für die des Geistes im besonderen gelten, somit auch für Barlachs Bemühungen um den Schwebenden als Inbegriff und Ausdruck des Geistigen, vorwiegend in der Gestalt des Engels. Im folgenden sollen literarische Inspirationsquellen für Barlachs Darstellungen des Schwebenden im Blickfeld stehen, wurden doch seine Arbeiten nicht allein durch Werke der Graphik, der Malerei, der Plastik geprägt. Das nach Barlachs Tod erstellte Verzeichnis seiner Bibliothek läßt darauf schließen, daß auch literarische Anregungen für seine Auseinandersetzung mit dem Schwebenden von Bedeutung gewesen sein dürften.

Kreative Prozesse spielen sich im Verborgenen ab. Scheinbar unvermittelt auftauchende Ideen erweisen sich oft als das Ergebnis eines langen Prozesses, ausgelöst durch Impulse, deren Ursprung im Dunkeln liegt. Die Inkubationsdauer vom ersten Anstoß zu einem Vorhaben bis zu dessen Ausführung ist schwer zu bestimmen. Barlach begegnete der Erscheinung des Engels früh. Die Frage, welche Lektüre seine Annäherung an das Phänomen des Schwebenden begünstigt haben könnte, läßt sich nur mit Vermutungen und Vorbehalt erwägen. Die aus seiner Bibliothek zu ermittelnden Befunde lassen immerhin erkennen, daß bestimmte Werke folgender Dichter größere Beachtung verdienen: Dante, Meister Eckehart, Heinrich Suso, Jakob Böhme, Goethe, Jean Paul, Eduard Mörike, Gerhart Hauptmann, Rainer Maria Rilke und Theodor Däubler. Unter den Texten, die für Barlachs Auseinandersetzung mit der Erscheinung des Schwebenden, besonders unter dem Aspekt der Ausstrahlung des Geistes, von Bedeutung gewesen sein mögen, ist eine Auswahl zu treffen. Mehr oder weniger handelt es sich um Werke, für welche die Heilige Schrift eine Quelle der Inspiration war. Zunächst jedoch muß auf die Überlieferung der Antike hingewiesen werden, die, unter gewandelten Bedingungen, auch in der Bibel ihren Niederschlag gefunden hat.

II

In den Mythen der Hellenen zählte das Fliegen wie das Schweben zu den Vorrechten der Götter. Ikaros verletzt dieses Prärogativ und bezahlt seinen Verstoß gegen die Ermahnungen seines Vaters Dädalus, das Maß nicht aus den Augen zu verlieren, mit dem Tode. Nicht anders ergeht es dem zum Olymp sich aufschwingenden Bellerophon. Phaëthon, dem Sohne des Helios und der Klymene, gehen die feurigen Rosse des Sonnenwagens durch, nachdem er, allzu hochgemut, sich zugetraut hatte, sie wenigstens einen Tag lang auf der ihnen vorgeschriebenen Bahn des Firmamentes führen zu können. Nachdem Phaëton Himmel und Erde in Brand gesetzt, erschlägt Zeus zur Abwehr weiteren Unheils den „Leuchtenden“, wie der Name des Verwegenen ins Deutsche zu übersetzen wäre, in höchster Not mit dem Blitz. Die Teilhabe am Privileg der Götter, fliegen und schweben zu können, mit dem Ziel, sich einen Platz im Ausstrahlungsbereich der Sonne zu sichern, ist ein uralter Menschheitstraum. Er hat die Geschichte der Religionen und der Künste im Laufe der Jahrtausende bis in unsere Zeit geprägt. Wie in anderen Mythologien wird auch bei den alten Griechen die Sonne als Sinnbild für den vom Geist erhellten Schöpferdrang gesehen.

In unserm Jahrhundert folgt Barlach auf eigenwillige Weise den Vorstellungen des alten Mythos: Im Drama Der tote Tag verfehlt der Sohn den Weg zur Sphäre des Geistes, deren Sinnbild die Sonne ist. Wohl ist der Himmel hell, „aber [die Sonne] hat ihr Angesicht von der Erde abgewandt. Entsetzt nimmt der Sohn wahr, daß sie „finster zur Seite [schaut]“, [ihn] nicht sehen [will]!“ Das geistige Prinzip unterliegt dem leiblichen. Dem Pegasus der griechischen Mythologie entspricht bei Barlach das von der Mutter getötete „Götterroß“ Herzhorn. Nachdem der Vater sich vom Sohn abgewendet hat, erlischt für diesen das Licht der Sonne. Zwischen Himmel und Erde droht das dunkle Verhängnis: „Ein toter Tag, ein Schreckgespenst für eines Schuldigen Seele.“ In der ewigen Finsternis bleibt für die Hoffnung kein Raum. In letzter Verlassenheit gibt sich der Sohn den Tod. In dem Versuch, persönlichste Erfahrungen zu bearbeiten, reflektiert das Drama Der tote Tag vor dem Hintergrund alter Mythen unverkennbar die Begegnung mit Däubler als dem Propheten einer der Sphäre des Geistigen zugewandten, von christlichen Überzeugungen geprägten Kosmogonie. Im Zuge der Arbeit am Toten Tag entstehen 1912 die ersten Entwürfe mit Figuren des Schwebenden. In Ansätzen lassen sich nunmehr schon die Konturen jener Form wahrnehmen, die später im Domengel ihre Vollendung finden sollte.

III

Die Heilige Schrift verbindet von Anbeginn den Schöpfungsakt des HERRN mit der Vorstellung des Schwebens. Auch in der Bibel bildet es den unvergänglichen Ausdruck für die göttliche Allmacht: „[…] der Geist Gottes schwebte auf dem Wasser.“ (1. Mos. 1, 2). Das Schweben ist das Hoheitszeichen göttlichen Wirkens. Womöglich begegnetete Barlach dem Schwebenden zuerst in der Aussage jenes Satzes, der in der Heiligen Schrift die Schöpfungskraft des Allmächtigen bezeugt. Die aus der hebräischen Weltanschauung abgeleitete und fortentwickelte biblische Vorstellung läßt an die Stelle von Gotteserscheinungen (Theophanien) Engelerscheinungen (Angelophanien) treten. In den älteren alttestamentlichen Schriften schweben Engel noch in der Mitte zwischen der Versinnbildlichung der Naturkräfte als Ursachen: „der du machst Winde zu deinen Engeln“ (Ps. 104, 4) und der eigentlichen Personifikation der göttlichen Exekutivgewalt: „Und in derselben Nacht fuhr aus der Engel des Herrn“ (2. Kön. 19, 35). Hier ist der Engel aufzufassen als Repräsentation Gottes. Nach und nach wird die Vorstellung von den Engeln sinnlich verdichtet. Ein „Heer“ von Engeln umgibt den göttlichen Thron. Raphael, Gabriel und Michael als Erzengel stehen Gott am nächsten. In der Rangordnung der himmlischen Heerscharen ist der Cherub als Wächter des Paradieses nach dem Sündenfall, als Vertreter der Gottesmajestät, als Thron des richtenden Gottes, ein Engel der höheren Ordnung.

Barlachs Darstellungen von Engeln belegen, daß er sich in den Schriften des Alten und Neuen Testaments auskannte. Nach dem von der Bibel verkündeten göttlichen Heilsplan besitzen aus dem Kreise der Dienerschaft des Herrn die Engel als Mittelwesen zwischen IHM und den Menschen, als Verkündiger und Vollstrecker des göttlichen Willens, die Fähigkeit zum Fliegen und Schweben: „Denn ein Engel des Herrn kam vom Himmel herab“ (Matth. 28, 2); „Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, […].“ (Lukas 2, 15); „und ward getragen von den Engeln in Abrahams Schoß.“ (Lukas 16, 22); „Ihr werdet den Himmel offen sehen und die Engel Gottes hinauf und herab fahren auf des Menschen Sohn.“ (Joh, 1, 51); „ Denn ein Engel fuhr herab zu seiner Zeit in den Teich und bewegte das Wasser.“ (Joh. 5, 4).