Anthologie der Werkstatt Oberursel

Rosmarie Fichtenkamm-Barde (Hrsg.)
Freitags von Zehn bis Zwölf
Begegnungen werden zu Geschichten
224 Seiten – Preis 11,50 €
ISBN 978-3-86672-202-6

Vorbemerkung
von der Herausgeberin
Rosemarie Fichtenkamm-Barde

„Freitags von zehn bis zwölf. Begegnungen werden zu Geschichten“ ist der zweite Sammelband, den die Autoren der Oberurseler Schreibwerkstatt veröffentlichen. Wieder stehen Lebenserinnerungen und Geschichten aus der Kindheit und Jugendzeit, von aufregenden Erlebnissen und Herausforderungen, von Erfahrungen im Berufs- und Familienleben, von den zeitgeschichtlichen Ereignissen der Kriegs- und Nachkriegszeit und dem Lebensgefühl der Aufbau- und „Achtundsechziger“ Aufbruchjahre im Mittelpunkt.

Ausgewählt wurden Texte, die von Begegnungen mit Menschen und Orten handeln. Orte und Menschen erinnern daran, wie man sich entwickelt hat, wofür man steht, was wesentlich und bedeutsam im Leben war. Immer geht es dabei auch um bewegende Momente, um prägende Erfahrungen, um Schlüsselszenen und Schlüsselfiguren im Leben. Es sind die berühmten, oft an einer Hand abzählbaren Situationen, die die Leidenschaften wecken, schmerzvolles Wachstum erzeugen und von denen man im Nachhinein sagt, dass sie das Leben verändert haben. “Im Grunde sind es immer die Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben“, sagt Wilhelm von Humboldt.

Manchmal sind solche Begegnungen auch glückliche Fügungen und Weichenstellungen, schicksalhafte Augenblicke, Flügelschläge, Sternstunden. In der griechischen Mythologie glaubte man, dass in solchen Momenten „Kairos“, der Gott des glücklichen Augenblicks, seine Finger mit im Spiel hatte.

Manchmal bleiben aber auch aus solchen Begegnungen ein Leben lang Narben, Risse oder „Knackse“ zurück. Etwa wenn zwei Liebende scheitern und aufgeben, oder wenn Freunde sich nur noch missverstehen und sich nichts mehr zu sagen haben. „In seinem Kern ist der Knacks der Beginn einer Entwicklung im Fluss der Entwicklungen … Etwas trennt sich, ermüdet, verliert Farbe, scheitert, gibt auf, … und erst im Rückblick kann man sagen: Dann war nichts mehr wie zuvor“ (vgl. Roger Willemsen S. 20 und 21).

So schreiben die Autorinnen und Autoren über Seelenverwandte, Vorbilder, Freunde, Lehrer, Menschen, die sie liebten oder an denen sie sich oft ein Leben lang abgearbeitet haben. Und über Räume, Berge, Landschaften, Orte mit magischer Kraft. An Schauplätzen des eigenen Lebens werden Lebenskerne, Lebensthemen, Glücksmomente, Wünsche und Sehnsüchte sichtbar.

Aber auch der Prozess des Erinnerns selbst kann zur Begegnung werden. Wer sich erinnert und seine inneren Bilder, Erlebnisse und Gedanken in Erzählungen zur Sprache bringt, begegnet sich selbst und versucht Antworten auf die Fragen zu finden: Warum bin ich so, wie ich bin? Wie hängt mein früheres Leben mit meinem heutigen zusammen? Was verbindet das „Ich war“ mit dem „Ich bin“? Erzählend und schreibend vergewissert man sich der eigenen Geschichte, stellt Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ereignissen und bedeutsamen Beziehungen und Kontinuität im Erleben her. Seine Geschichte erzählen zu können, schärft das Bewusstsein für die Kräfte und Einflüsse, die im Leben wirksam sind. Diese Geschichten sind dann wie Rettungsringe, sie halten zusammen, machen sichtbar und entlasten vom Strampeln um Identität (vgl. Kraus 1998).

So schafft jede Begegnung ihre eigene Geschichte. Indem man sich und anderen Geschichten aus seinem Leben erzählt, findet und erfindet man sich selbst. „Früher oder später erfindet sich jeder eine Geschichte, die er dann für sein Leben hält“, sagt Max Frisch. Denn hassen und lieben, träumen und zweifeln, planen und handeln, erinnern und denken, alles drückt sich in Geschichten aus.

Von solchen Erfahrungen, Begegnungen, Momenten, Sternstunden, Zeitsprüngen, Turbulenzen und ihren oftmals weitreichenden Folgen handelt dieser Sammelband. Von Zufällen, in denen etwas Neues passiert, passieren muss, als hätte es anders niemals kommen können. Außergewöhnliche Momente in ganz gewöhnlichen Leben, subjektive Nahaufnahmen, die auch ein Stück Zeit- und Alltagsgeschichte sind.

Es sind Geschichten, die den Leser in ihren Bann ziehen, ihn aber immer wieder auch auf sich selbst zurückwerfen.