Eva-Maria Kraske
»Betrug und Gnade. Thomas Manns Erzählung ›Die Betrogene‹«
48 Seiten – Preis 5,95 €
ISBN 978-3-86672-021-3
„Ich habe mir den Stoff nicht ausgedacht; er kam zu mir als Anekdote aus dem Leben, als Vorkommnis, von dem ich hörte und das mich packte durch die grausame Natur-Dämonie, die sich darin ausdrückt, und da es mich betroffen machte, mich sofort produktiv anzog.“ So Thomas Mann in einem Interview aus dem Jahr 1954.
Die Betrogene ist nicht nur die erste Erzählung, die Thomas Mann nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten wieder in Europa schrieb, sie ist auch die letzte abgeschlossene Prosaarbeit überhaupt; er hatte hierfür seine Arbeit am Felix Krull wieder einmal unterbrochen. Zusammen mit Wälsungenblut gehört „diese kleine Mythe von der Mutter Natur“ – wie der Autor sie selbst einmal nannte – zu den beiden Skandalgeschichten in seinem Werk. So wie einst Wälsungenblut galt auch Die Betrogene als Tabuverletzung, als Skandalon, und wurde von der Kritik weitgehend ablehnend, teilweise sogar vernichtend beurteilt. Ein erstaunlicher Tatbestand, wenn man daran denkt, wie viele Tabuverletzungen es doch in dem späten Roman Der Erwählte gibt, der zwei Jahre zuvor erschienen war und auf den die Kritik überaus positiv reagiert hatte.
Anfang April des Jahres 1952 heißt es im Mannschen Tagebuch: „Beim Früh-Kaffee Erinnerung K`s an eine ältere Münchener Aristokratin, die sich leidenschaftlich in den jungen Hauslehrer ihres Sohnes verliebt. Wunderbarerweise tritt, nach ihrem entzückten Glauben kraft der Liebe, noch einmal Menstruation ein. Ihr Weibtum ist ihr zurückgegeben – es war im Grunde noch nicht tot, wie hätte sonst auch dies junge mächtige Gefühl sie ergreifen können?
Bereits wenige Wochen später beginnt Thomas Mann mit der Niederschrift seiner letzten Erzählung, die schon ein Jahr darauf erscheinen sollte. Die Eile offenbart, wie wichtig diese Geschichte dem Autor war und erzählt werden mußte. Doch worum geht es nun in dieser Novelle, und was ist das eigentlich Anstößige daran, das behauptete Skandalöse?
Die Offizierswitwe Rosalie von Tümmler, „ein gutes Kind der Natur“, der es seit einigen Monaten „schon nicht mehr nach der Weiber Weise geht“ und die seelisch aufbegehrt gegen „das Erlöschen ihrer physischen Weiblichkeit“, verliebt sich leidenschaftlich in den jungen Amerikaner Ken Keaton, den Hauslehrer ihres Sohnes. Die scharfsichtigen Warnungen der gehbehinderten Tochter Anna, einer Kunststudentin, mißachtend, die in der Neigung der Mutter das Gefahrvolle und Zerstörerische erkennt, gibt sich Rosalie ganz ihrem „Seelenfrühling“ hin und sieht in plötzlich neu auftretenden Blutungen die Wiederkehr ihres Weibtums, den Triumph ihrer Liebe. Die Blutung ist schließlich aber der sichtbare Ausdruck einer schweren Erkrankung Rosalies, eines Gebärmutterkrebs, der zum Tode führt. „Das Gefühlswunder war“ – so Thomas Mann – „das Werk pathologischer Reizung, ein grausamer Betrug der Natur.“
Mit dieser Geschichte hatte Thomas Mann – so sah man es in den fünfziger Jahren – gleich in mehrfacher Hinsicht einen Tabubruch vorgenommen; es waren „der späte Liebesrausch einer alternden Matrone, ihr Klimakterium und der Tod durch Gebärmutterkrebs.“ Die Kritik sprach von einer „greisenhaften Beschäftigung mit einer heiklen Erotik“, der Autor verletze „das Schema unzähliger Filme und Liebesgeschichten, … wonach Jugend nun einmal zur Jugend will und das um Jugend werbende Alter ins komische Rollenfach gehört. Beredet von einem Mann – das weibliche und beschwiegene Geheimnis der Blutungen, das den Männern stets unheimlich geblieben war.“ So Hans Mayer in seinen Betrachtungen zu dieser Novelle. Dies alles also galt als „makabre Geschmacklosigkeit“ nicht zuletzt wegen des klinischen Charakters der Erzählung. Der Autor hatte „mit diesem ungeheuerlichen Thema die Konventionen einer ängstlichen Literaturauffassung verletzt.“
Wirft man einen weiteren Blick auf die Rezensionen zur Betrogenen, insbesondere auf die essayistische oder wissenschaftliche Beschäftigung damit, wird offenbar, daß kaum weibliche Stimmen darunter sind. Dies überrascht, da es sich bei diesem Gegenstand doch um eine ausgesprochen weibliche Thematik handelt. Thomas Mann selbst sprach von „einer Frauengeschichte, die nichts für Frauen ist.“ Ist sie nichts für Frauen, weil sie eben keine Liebesgeschichte im traditionellen Sinn ist. oder aber ist sie nicht nur etwas für Frauen, weil es sich in dieser Geschichte auch um mehr und anderes handelt, als es sich auf den ersten Blick darstellt? Doch zurück zur Erzählung.
In den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts lebt die große Naturfreundin Rosalie von Tümmler mit ihren Kindern Anna und Eduard in Düsseldorf am Rhein. Nach dem Tode ihres Mannes war sie dorthin verzogen „der schönen Parkanlagen willen“. Die Tochter besucht dort die Kunstakademie, um Malerin zu werden, der Sohn geht noch zur Schule. Die Familie wohnt in einer von Linden gesäumten Straße. Damit wird kaum merklich ein entscheidendes Motiv in die Erzählung eingeführt, dasjenige des Duftes. Die gelblichen Blüten der Linde sind bekanntermaßen stark und angenehm duftend, und diese Blüten treten in so genannten Trugdolden auf. Gleich zu Beginn der Novelle erhält der Leser einen ersten dezenten und versteckten Hinweis darauf, worum es in dieser Geschichte vorrangig geht: um Trug und Schein.
Mit Rosalie von Tümmler ist erstmals im Mannschen Werk eine Naive die alleinige Protagonistin des Geschehens. Oft verglichen mit anderen naiven Frauengestalten wie Toni Buddenbrook oder Charlotte Kestner, ist sie die Figur, die diese Erzählung bestimmt, ihr Schicksal ist das dominierende Thema.
Thomas Mann nahm sich übrigens für die Gestalt seiner Rosalie die deutsche Schriftstellerin Gertrud von Le Fort zum Vorbild, einer zum Katholizismus konvertierten Hugenottin, die sich in ihrem Werk mit religiösen und historischen Themen beschäftigte.