Wolfgang Dahms
»Der Betrogene«
Roman
224 Seiten – Preis 14,00 €
ISBN 978-3-86672-041-1
Wenn sie sich bückt, dehnen ihre Oberschenkel und Knie die Jeans, kerbt der verblichene Stoff sich zwischen Hinterbacken, entblößt Fußknöchel und kräftige Fesseln. Der Büstenhalterverschluss drückt sich unter dem T-Shirt durch. Die Rückenwirbel höckern die rosa Baumwolle, die blasse Haut zwischen der hoch- gerutschten Abschlussnaht und den leeren Gürtelschlaufen. Auf dem Drehstuhl ruckelnd, reibt Stephan seine Zunge am Gaumen, sammelt Speichel und schluckt. Wieder diese Leere im Magen. Und in der Leistengegend schwillt und zieht es, als beuge er sich über die Lenkstange seines Fahrrads, trete er in die Pedale, reiben seit Stunden seine Hosenbeine am Sattelleder. Er zwingt den Blick auf den Monitor, um seinen Text zu Ende zu tippen.
Das Tastengeklapper mischt sich mit dem Geheul des Staubsaugers. Jeden der sieben Polsterstühle rückt Brigitte zur Seite, um den Teppichboden auch unter dem runden, kunststoffbeschichteten Tisch zu säubern. Die freie Hand in die Hüfte gestemmt, bewegt sie den Düsenaufsatz vor und zurück. Sie schaltet das Gerät aus, und tieftönig verklingt der Elektromotor. Durch das schräg gestellte Fenster dringen Vormittagswärme, Blütenduft und Vogelzwitschern in das Betriebsratszimmer, von der nahen Autobahn das Brummen der Laster und Reisebusse, das Summen der PKWs und Motorräder. Die Schultern rollend, richtet die Frau sich auf und wirft das wellige Haar nach hinten.
Der Drucker surrt, ruckt das erste Blatt auf die Ablage. Stephan schwingt sich auf dem Drehstuhl herum und fasst Brigittes Hände, die noch feucht von dem Lappen sind, mit dem sie das Fensterbrett gewischt hat. Er sieht vom über Spitzenbesatz und stützenden Kreuznähten gebeulten Stoffrosa zum Grübchen im schwach ausgebildeten Kinn. Sein Blick stockt bei den blätterteigartig trockenen, aber vollen Lippen, den Schatten der Nasenlöcher. »Liebe Brigitte, hier, zu diesem Schrank habe nur ich den Schlüssel. Da drin liegt eine Liste mit über hundertfünfzig Namen. Und hinter jedem der Geburtstag, die Adresse, wie lange die oder der bei uns schon schafft … und als was.« Mit dem Nagel des Mittelfingers fährt er die Daumenfurche ihrer rechten Hand entlang. »Auf einem anderen Blatt steht, wer Gewerkschaftsmitglied ist … Auch Anhörungsprotokolle sind dort abgeheftet, sogar die Kopien von Gutachten, gerichtlichen Entscheiden. Sachen kann man da lesen: Krankheitsgeschichten, wer eine Behinderung hat, ob da Problemkinder sind, Pflegefälle in der Familie, Schulden, Vorstrafen und andere Peinlichkeiten … Von dir zum Beispiel weiß ich, dass du Jungfrau bist.« Wie empört entzieht sie ihm ihre Hände. »Das verraten mir die Sterne … an jedem achtzehnten September.« Jetzt lacht sie, und rote Flecken leuchten an ihrem Hals.
Wieder berühren seine Handflächen ihre kurz geschnittenen Fingernägel, schließen sich um ihre Knöchel, streicheln die weiße und schrumpelige Haut. Von ihr geht der scharfe, schwach süße Duft eines Scheuermittels aus. »Nicht wahr«, dringt er in sie, senkt das Kinn und hebt die Brauen, »als Betriebsratsmitglied bist du doch deinem Vorsitzenden Vertrauen schuldig … Und nie würdest du mich anlügen.« Ihre Pupillen spiegeln als helles Oval sein Gesicht, als blauen Doppelstrich seinen Arbeitsanzug. »Du kannst dich drauf verlassen: Was du auch antworten wirst, ich behalte es für mich.« Sie kehrt die graue Iris in die Augenwinkel, will die Hände aus der Umklammerung lösen. Doch sein Griff wird umso fester. »Wir kennen uns jetzt schon so viele Jahre … Damals hast du noch an den Maschinen gearbeitet. Und ich hab’ dir auf die Finger geschaut, wie du die Pappen zwischen die Umschläge geschoben hast. Richtig wund waren diese Patschhändchen vom Anklopfen und Schlagen. Und wie du die Kuverts zusammengedrückt und mit kühnem Schwung in die Kartons gepackt hast! Kein einziges ist danebengefallen.« Er reibt ihr Handgelenk. »Dann diese Hitze, der flimmernde Staub, der Lärm … Schreien musste ich! Bestimmt hab’ ich dich genervt mit meiner Fragerei. Und du hast zurückgebrüllt: Hier werden die Stanzlinge eingelegt, an der Stelle gefalzt und geklebt, da trocken geblasen und dort geschlossen. Und ganz am Ende stößt der Automat die fertigen Umschläge aus, ruckweise, dass man zusehen kann, einen nach dem anderen.« Stephan tippt auf ihren Bauchnabel. »Du warst es auch, die mir den Unterschied gezeigt hat: was eine Rückhülle ist, ein Fensterkuvert, eine Versandtasche. Zum Feierabend hab’ ich dich gar nicht erkannt mit deiner Schürze, die fast auf dem Boden schleifte. Hellgrüne Gummihandschuhe hast du angehabt. Und Farbe klebte an denen, richtig verkrustete …«