Bernd M. Kraske
»Im Spiel von Sein und Schein
Thomas Manns Hochstapler-Roman ›Felix Krull‹«
52 Seiten – Preis 8,50 €
ISBN 978-3-86672-111-1
Gleich zu Beginn des 20. Jahrhunderts hielt eine Skandalgeschichte die geneigten Leser der Unterhaltungsjournale beiderseits des Rheins in Atem. Berichtet wurde von den kriminellen Machenschaften eines Heiratsschwindlers und Hoteldiebs, der in Paris sein Unwesen getrieben hatte und nun im Gefängnis sitzend seine Memoiren schrieb. Der Mann hieß Georges Manolescu, stammte aus Rumänien, war mehrfach in Gefängnissen verwahrt und starb schließlich 1911. Um Geld zu verdienen, schrieb er nicht nur seine Memoiren, die 1905 in deutscher Sprache bei Langenscheidt in Berlin erschienen waren – ihr Titel: „Gescheitert“ – sondern auch einzelne Geschichten, wahre und erfundene Gaunereien aus seinem Leben zur Erheiterung des Publikums.
Diese Feuilletons, wohl vor der Buchpublikation erschienen, müssen ganz offensichtlich den Münchner Schriftsteller Kurt Martens zu einer Novelle angeregt haben, die in zwei Fortsetzungen im November 1901 in den „Münchner Neuesten Nachrichten“ unter dem Titel „Das Ehepaar Kuminski“ erschienen war. Martens, mit Thomas Mann seit dessen Münchner Tagen befreundet, erhielt von diesem einen Brief vom Gardasee, Riva, 30.11.1901:
„…ich habe ‚Das Ehepaar Kuminski‘ mit großem Vergnügen gelesen. Es ist ein echter Martens, mondän und geistvoll…“
Martens beschreibt in seiner Novelle die Hochzeitsreise eines jungen Paares, während der die Ehefrau ihren Frischvermählten dabei ertappt, wie er eine Dame im Eisenbahncoupé bestiehlt, und es stellt sich heraus, daß sie einem Hoteldieb und Heiratsschwindler aufgesessen ist.
1904 nimmt Martens diese Erzählung in seinem Novellenband „Katastrophen“ auf, den er dem Freund Thomas Mann im Druck widmet. Späterhin hat Martens in seiner Autobiographie berichtet, daß die Erzählung vom Ehepaar Kuminski auf eine Episode aus Manolescus Leben zurückgehe. Durch Martens aufmerksam geworden, hat sich Thomas Mann mit dessen Lebensbericht bekannt gemacht, wie schon das Notizbuch No. 7 zeigt, das er zwischen 1901 und 1905 geführt hat. Darin notierte er:
„Der Hochstapler. Er markiert in gefährlichen Augenblicken Husten-Anfälle, aus dem Instinkt: Der Leidende ist unschuldig, über einen Kranken geht der Verdacht hinweg.“
Manolescu beschreibt in „Gescheitert“, wie er vor dem Spiegel übt, Edelsteine aus der Hand in den Mund und von dort in ein Taschentuch zu befördern, ohne vom Juwelenhändler dabei ertappt zu werden: „Ich gab mir vor dem Spiegel den Anschein, als ob ich einen Hustenanfall bekäme und ausspucken wollte; und da ich annahm, daß kein Spucknapf in der Nähe sei, und ich nicht auf die Erde speien wollte, zog ich ein Taschentuch aus meiner Tasche, um in dieses zu speien, und ließ gleichzeitig das entwendete Kügelchen in die Tasche fallen.“ Was bei Manolescu bloßer Diebeskniff ist, verwandelt sich bei Thomas Mann in ein psychologisches Aperçu.
Wie wichtig ihm diese Eintragung war, zeigt sich darin, daß Thomas Mann seine Eintragung ins Notizbuch No. 9 übernahm, das er seit 1906 führte. Der Plan für eine Diebesgeschichte war offensichtlich gefaßt, wurde aber vorerst auf Eis gelegt. Es galt sich „eine Verfassung zu geben“ wie er an den Bruder Heinrich schrieb. Diese bestand in der Eheschließung mit Katia Pringsheim am 11. Februar 1905. Als schließlich das literarische Produkt der ersten Ehejahre, der Roman „Königliche Hoheit“ im Jahr 1909 erschienen war, war der Weg frei für den neuen Stoff. Am 10. Januar 1910 schreibt er an den Bruder Heinrich:
„Ich sammle, notiere und studiere für die Bekenntnisse des Hochstaplers, die wohl mein Sonderbarstes werden. Ich bin manchmal überrascht, was ich dabei aus mir heraushole. Es ist aber eine ungesunde Arbeit und für die Nerven nicht gut.“
Und ein Vierteljahr später berichtet er dem befreundeten Schriftsteller Walter Opitz:
„Ich habe eine größere Sache begonnen, die etwas recht Merkwürdiges werden kann. Es ist eine Hochstaplergeschichte und soll heißen: ‚Bekenntnisse des Diebes und Schwindlers Felix Krull.‘ Sie sind übrigens der Erste, der es erfährt.“
Aber auch den jüdischen Kritiker Samuel Lublinski weiht er im Juni 1910 in seinen Plan ein und stellt ihm die Frage:
„Halten Sie die Vereinigung von Frivolität und Moralismus für möglich, daß Einer in der Kunst ein erquickliches Blendwerk sehe, hervorzubringen mit den feinsten sinnlichen und intellektuellen Zaubermitteln – und zugleich an künstlerischer Strenge und Gewissenhaftigkeit beinahe zu Grunde gehe? Ich fange an, sie für möglich zu halten, – etwa so, wie ich die Vereinigung von Skepsis und Leidenschaft für möglich halte. Ja, was ist die Kunst! Was ist der Künstler! Diese Mischung aus Lucifer und Clown […]“