Bernd M. Kraske „Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“

In seiner Autobiographie „Dichtung und Wahrheit“ schreibt Goethe über die Joseph-Geschichte des Alten Testaments: „Höchst liebenswürdig ist diese Geschichte; nur scheint sie zu kurz, und man fühlt sich versucht, sie in alle Einzelheiten auszuführen.“ Hundert Jahre später nahm Thomas Mann diese Anregung auf und schuf ein beinahe zweitausend Seiten starkes Epos, dass seinesgleichen sucht an Bilderfülle, Sprachzauberei und Exaktheit in der Darstellung und im Umgang mit den Quellen.

Wenn es in der diesem Buch zugrunde liegenden Ausstellung darum geht, den Roman in einer Art bebildertem Spaziergang zu durchwandern, so darum, einem breiten Publikum Vorfreude zu bereiten auf ein hoffentlich bevorstehendes Leseerlebnis. Es stimmt: man taucht dabei tief ein in den Brunnen der Vergangenheit, aber wenn von Vergangenheit die Rede ist, dann nicht wie von etwas Totem und Vergessenem, sondern wie von etwas, das wir alle in uns tragen, etwas, das die Gegenwart befruchtet und die Zukunft begehrenswert macht. Ohne dies Wissen und Erinnern ist kein menschenwürdiges Morgen möglich.

Und es geht auch darum, dem alten Medium Buch gerecht zu werden. Gerade in einer Zeit der Reizüberflutung durch neue digitale Techniken und der damit verbundenen, rasant um sich greifenden  Sprachverarmung, bietet das gedruckte Buch die Möglichkeiten notwendiger Entschleunigung und  haptischen Verg
nügens.

Freude zu bereiten, sagt Thomas Mann, sei die Hauptaufgabe der Kunst. Freuen wir uns auf die Wiederbegegnung mit einem großen Mythos der Menschheit, auf Thomas Manns  Hohes Lied von Joseph und seinen Brüdern.