Über Thomas Manns Buddenbrooks

Bernd M. Kraske
»Revolution und Schulalltag.
Thomas Manns ›Buddenbrooks‹«
48 Seiten – Preis 5,95 €
ISBN 978-3-930730-24-7

Am 13. Oktober des Jahres 1905 wurde vor dem Lübecker Schöffengericht ein Beleidigungsprozeß eröffnet, der nach sechs Verhandlungstagen und der Anhörung von 16 Zeugen mit dem Freispruch des Beklagten endete. Was war geschehen?
Der angeklagte Schriftsteller Johannes Dose hatte 1904 im Glückstädter Hansen-Verlag einen Heimatroman unter dem Titel »Der Muttersohn, Roman eines Agrariers« veröffentlicht. Der Vetter Doses, ein Rechtsanwalt Ritter aus Tondern, sah sich in der Romanfigur des Asmus Berg portraitiert und führte Klage wegen Beleidigung.

Johannes Dose, im Jahre 1860 in Oedde bei Schleswig geboren,  hatte in Kiel und Leipzig Theologie studiert und sich danach als Lehrer in den Vereinigten Staaten niedergelassen, wo er in einem Waisenhaus in Philadelphia unterrichtete. Nach seiner Rückkehr nach Schleswig (1895) begann seine schriftstellerische Laufbahn mit den »Heimatliedern« von 1898 und dem Romanerstling »Magister Bogelius« von 1899. Es erschienen in schneller Folge ca. zwei Dutzend Romane, in denen sich Dose als ein namhafter Schilderer des heimatlichen Lebens erwies. Seine Bücher waren das, was man heutzutage Bestseller nennt. Dose hatte sich 1902 in Lübeck niedergelassen, und so wurde die Hansestadt zum Verhandlungsort des gegen ihn geführten Prozesses, in welchem der Lübecker Rechtsanwalt Dr. Enrico von Brocken die Anklage vertrat. Dieser argumentierte, der Roman sei »à la Bilse« geschrieben, was der Vertreter Doses, Rechtsanwalt Dr. Wittern, bestritt, denn unter einem Bilse-Roman verstehe man einen Roman, der lebende Personen in klatschsüchtiger Absicht verächtlich mache. Dies sei im Falle des Romans seines Mandanten nicht der Fall. Weiterhin verlangte der Verteidiger die Verlesung des Romans und die Ladung mehrerer literarischer Sachverständiger – darunter Thomas Mann. Dem ersten Antrag wurde stattgegeben, der Roman »Der Muttersohn« daraufhin während zweier Verhandlungstage im Gerichtssaal vorgelesen, der zweite Antrag dagegen vom Gericht abgelehnt. Daß Thomas Mann um ein Haar als Sachverständiger geladen worden wäre, erklärt der Umstand, daß der Anklagevertreter mehrfach auf Manns Roman »Buddenbrooks«, als eines Romans à la Bilse verwiesen hatte.
Das Wort vom Bilse-Roman war den damaligen Zeitgenossen wohl bekannt, nicht so sehr aber uns Heutigen. Daher einige Anmerkungen hierzu.

Der Leutnant Fritz Oswald Bilse hatte im Jahr 1903 in einem Braunschweiger Verlag unter dem Pseudonym Fritz von Kyrburg einen Roman veröffentlicht. Sein Titel: »Aus einer kleinen Garnison. Ein militärisches Zeitbild«. Der Roman schildert in verschlüsselter Form das Leben in der lothringischen Garnisonstadt Forbach, in der sein Verfasser stationiert war. Bilse erzählt in seinem Roman von Meineid und Desertion, von Mord und Selbstmord, von Ehebruch und einem daraus resultierenden verbotenen Duell, von Zahlung ungedeckter Wechsel zur Begleichung von Kasinoschulden und schließlich von der Mißhandlung von Untergebenen durch deren Offiziere. Nichts war in diesem Roman erfunden, alles entsprach der Wirklichkeit, wie das Militärgericht in Metz, vor das Bilse wegen des Romans zitiert worden war, ausdrücklich bestätigte. Obwohl sich der Roman an wahren Sachverhalten orientiert hatte, wurde der Leutnant Fritz Oswald Bilse wegen Verächtlichmachung des Militärs zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Die Dienstentlassung und das Verbot des Romans in Deutschland durch das kaiserliche Militärkabinett folgten. Der Bilse-Roman jedoch wurde populär und erlebte in Österreich mehrere Auflagen in kürzester Zeit. August Bebel bezog sich als Sprecher der Sozialdemokraten in einer Reichstagsdebatte von 1904 auf Bilses Roman, indem er ausführte:

»Der Herr Kriegsminister hat anläßlich des Forbacher Falles bei der Generaldebatte des Etats mit Nachdruck erklärt, es würden keine Fälle wie in Forbach wieder vorkommen, wie sie von Bilse in seinem Roman ›Aus einer kleinen Garnison‹ geschildert sind. Ich bin felsenfest überzeugt, daß es niemandem unangenehmer als dem Herrn Kriegsminister und den Spitzen der Armee ist, wenn solche Dinge nicht allein in die Öffentlichkeit kommen, sondern wie in Forbach durch kriegsgerichtliche Untersuchungen auch noch festgestellt wird, daß alles, was Bilse in seinem Roman gesagt hat, wahr ist. Das war überhaupt das Entscheidende des Urteils, das gegen den Mann gefällt wurde; es wäre viel härter ausgefallen, wenn sich bei der Untersuchung nicht herausgestellt hätte, daß die Angaben in den allermeisten Fällen leider, sage auch ich, wahr waren. Leider ist seit der Zeit mancherlei passiert, was bestätigt, was ich nicht glaubte, nämlich es gibt noch mehr Forbachs bei der Armee. Es muß  nur ein Bilse da sein, um es an die Öffentlichkeit zu bringen.«