Über Roths Radetzkymarsch

Bernd M. Kraske
»Heimweh nach der Vergangenheit.
Joseph Roths ›Radetzkymarsch‹«
48 Seiten – Preis 5,95 €
ISBN 978-3-86672-023-7

Als Joseph Roth im französischen Exil in einem seiner Pariser Stamm-Cafés saß, trank und trank und nichts zu essen bestellte, und der Kellner ihm zum wiederholten Male eine Vorspeise anbot: „Quelque chose pour commencer, Monsieur?“, bekam er eine merkwürdige Antwort. „Je ne commence pas“, sagte Joseph Roth, ohne aufzublicken. „Je ne commence plus. Je suis fini.“ (Etwas zum Beginn, mein Herr? – Nein, ich beginne nicht. Ich beginne nie mehr. Ich bin fertig.)

Die Bitternis, die aus solchen Worten spricht, hat selbstverständlich Gründe:

Persönliche und von außen kommende, d.h. in diesem Falle allgemein politische. Für Joseph Roth waren das zeitlebens ein und dieselben Gründe. Im Frühjahr 1939, kurz vor dem durch alkoholische Exzesse in beinahe selbstmörderischer Absicht, zumindest aber grob fahrlässig herbeigeführten eigenen Ende, spricht sich in solcherlei Resignation die Bestürzung über den Anschluß Österreichs ans Großdeutsche Reich aus. Mit zunehmend schwindenden Kräften, immer näher am physischen wie psychischen Zusammenbruch, hatte Joseph Roth erleben müssen, wie der Tod unter den Emigranten aus Hitler-Deutschland Ernte hielt. Kurt Tucholsky hatte Hand an sich gelegt, Jakob Wassermann war gestorben, für den Freund Ödon von Horvath, der auf den Champs Elysées von einem umstürzenden Baum erschlagen worden war, hatte Roth die Trauerrede gehalten. Als er – so wird berichtet – die Nachricht vom Selbstmord Ernst Tollers las, stürzte er besinnungslos zu Boden und wurde in ein Pariser Krankenhaus gebracht, wo er, nicht ganz 45 Jahre alt, am 27. Mai 1939 starb.

Bei seiner Beisetzung in Paris legte ein Herr im Gehrock einen Kranz mit einer schwarz-gelben Schärpe nieder: Im Namen Seiner Allerkatholischsten Majestät, Otto von Habsburg, der rechtmäßige Thronanwärter Österreich-Ungarns. Der Erbe wußte ganz offenbar, was er dem großen Elegiker der Habsburger Monarchie, dem galizischen Juden Joseph Roth schuldig war. Dieser stammte aus der äußersten östlichen Ecke der Monarchie, dort wo das Reich an das zaristische Rußland grenzte. Wie die meisten Grenzbewohner schwankte auch er zwischen übertriebener Begeisterung und ironischer, bisweilen zärtlicher Kritik seines Landes, das er sozusagen von der Seite her überblickte, quasi im Profil sah. Er war ein Österreicher im weitesten Sinne, ein Angehöriger der alten österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie, mit ihrem Völkergemisch, ihrer Kulturmischung, ihrer vermischten Geschichte und ihrem Dutzend Sprachen, des halb glücklichen, halb widerstrebenden grotesken Völkervereins unter dem lothringischen Nachkommen der hochgekommenen Schweizer Familie Habsburg. Da gab es Tschechen und Deutsche, Magyaren und Italiener, Slowaken und Kroaten, Dalmatiner und Huzulen, Montenegriner und Wenden, Ukrainer und Ruthenen. Da gab es Juden und Mohammedaner, Katholiken und Lutheraner, Griechisch-Katholische und Freimaurer. Da gab es die Tradition des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und des Weltreichs von Kaiser Karl dem V., Einflüsse aus Spanien und Mailand, Venedig und Rom, aus Warschau und Moskau, Berlin und Paris, die Nachbarschaft des Balkans und der Türken und die Nähe des Orients. Joseph Roth entstammte diesem Konglomerat, er war stolz auf diese Herkunft, und er war auf der Flucht vor ihr. Dies ist durchaus kein Widerspruch, sondern charakterisiert den Menschen Joseph Roth, der wie kaum ein Zweiter seiner Generation und seines Berufsstandes Gegensätzlichstes in sich vereinigte. „Ich bin ein Franzose aus dem Osten, ein Humanist, ein Rationalist mit Religion, ein Katholik mit jüdischem Gehirn, ein wirklicher Revolutionär.“ Er lebte meist auf Reisen und war stets unterwegs auf der Suche nach sich selbst, nach anderen, nach Gott, nach einem guten Gewissen, nach dem Rausch und der heiligen Nüchternheit. Immer unmittelbar vor der äußersten Verzweiflung stehend, einen Schritt vor dem Abgrund, suchte er die Gnade. Er war ein beschämter Ungläubiger, der es mit vielen Religionen probieren wollte, und er war ein schwelgerischer Ironiker, der sich seiner Tränen und seines guten Herzens schämte. Er hatte die Bitterkeit des stets neu enttäuschten Moralisten.