Thomas Manns GTagebücher, Vortrag

Bernd M. Kraske
»›Es kenne mich die Welt…‹
Thomas Manns Tagebücher«
52 Seiten – Preis 5,95 €
ISBN 978-3-86672-025-1

Am Abend des 21. Mai 1945 notierte Thomas Mann in seinem Tagebuch: „…alte Tagebücher vernichtet in Ausführung eines längst gehegten Vorsatzes. Verbrennung im Ofen draußen.“ Draußen, das hieß im Garten seines kalifornischen Domizils, des so genannten „Seven Palms House“ am San Remo Drive 1550 in Pacific Palisades, in der Bucht von Santa Monica, nahe Hollywood, welches sich die Manns 1941 hatten bauen lassen. Es war nicht das erste Autodafé, das Thomas Mann verübte, schon der angehende Schriftsteller hatte sich 1896 in München der Tagebücher seiner Jugendzeit entledigt. Und im kalifornischen Garten brannten nicht alle Tagesaufzeichnungen. Diejenigen, die mit dem Beginn des Exils im Jahr 1933 begannen, hatte er aufbewahrt und noch vor der Rückkehr ins alte Europa 1951 verpackt und versiegelt. „Daily notes, 1933-1951, without any literary value“, hatte er eigenhändig darauf geschrieben und zusätzlich verfügt, sie dürften erst zwanzig Jahre nach seinem Tod geöffnet werden. Auch mit den verbliebenen Tagebüchern der letzten Lebensjahre verfuhr er so. Kurz vor der Abreise zur Premiere des Films „Königliche Hoheit“ in Amsterdam am 30. Juni 1955 hatte er die Hefte verpackt und zu den anderen gelegt, so als ob er geahnt habe, dass diese Reise seine letzte sein sollte, dass er nicht mehr an den Schreibtisch nach Kilchberg am Zürichsee zurückkehren sollte. Nach seinem Tod 1955 versiegelte die älteste Tochter dieses Paket und versah es mit der entsprechenden Aufschrift.

Als die insgesamt vier Pakete an Thomas Manns zwanzigstem Todestag, am 12. August 1975, geöffnet wurden, brachten sie eine Überraschung, auf die man nach den Aufschriften nicht hatte gefasst sein können. Die Pakete enthielten vierunddreißig Tagebuchhefte mit etwas mehr als sechstausend beschriebenen Seiten, aber nicht nur die angekündigten Hefte seit 1933 waren darunter, sondern weitere vier Hefte, aus einer sehr viel früheren Zeit. Sie enthielten Tagebuchaufzeichnungen vom 11. September 1918 bis zum 1. Dezember 1921. Dass er diese relativ frühen Aufzeichnungen nicht im kalifornischen Garten mit vernichtet hatte, mag seinen Grund darin haben, dass er wichtige Informationen über das München der Revolution und der frühesten 20er Jahre für die entsprechenden Kapitel des in Arbeit befindlichen Romans „Doktor Faustus“ glaubte aufbewahren zu müssen.

Die erhaltenen Tagebücher spiegeln also hauptsächlich Thomas Manns letzte zweiundzwanzig Lebensjahre, eine Zeitspanne, die er im Exil in Frankreich, der Schweiz, den USA und nach dem Zweiten Weltkrieg wiederum in der Schweiz verbrachte. Es ist dabei nicht übertrieben, wenn man von den letzten Schweizer Jahren auch von Exiljahren spricht, exiliert diesmal von den USA, deren Staatsbürger Thomas Mann seit 1944 war. Der aufkommende Nationalismus und die Kommunistenhatz der McCarthy-Ära trieben ihn außer Landes.

Als im Herbst 1995 die Tagebuchedition mit der Herausgabe des zehnten Bandes beendet war, war gleichzeitig ein Editionsprojekt zum Abschluß gelangt, das seinesgleichen sucht und das man getrost als Jahrhundertwerk preisen darf. Die ersten fünf Bände wurden noch vom Altmeister der Thomas Mann-Forschung, von Peter de Mendelssohn, herausgegeben und erschienen seit 1977. Nach de Mendelssohns Tod übernahm Inge Jens diese Aufgabe und lieferte weitere fünf Bände, mustergültig ediert und überreich kommentiert. Die Arbeit der beiden Editoren hat damit die Grundlage geschaffen, derer sich die neueren Biographen Thomas Manns nur allzu gern bedienten, und sie hat, genau genommen, Biographien des alten Thomas Mann unnötig und beinahe überflüssig werden lassen. Denn was den Editoren beispielhaft gelang, ist eine äußerst authentische Rekonstruktion des historischen Hintergrunds von Manns Werk und Vita.

Als dieser im amerikanischen Exil seine Tagebücher versiegelte, konnte er nicht ahnen, dass das Öffnen der Konvolute ziemlich genau mit den Feiern seines hundertsten Geburtstages zusammenfallen sollte. Gefeiert wurde damals viel im Sommer 1975, und es wurde viel opponiert gegen den Nachruhm des großen Mannes.