Dürer Marienleben

Albrecht Dürer
»Das Marienbuch –
Dürers Marienleben nebst einer Auswahl der schönsten Marienlegenden und alten deutschen Marienlieder«
Herausgegeben von Rudolf Wolff
148 Seiten – Preis 12,00 €
ISBN 978-3-86672-102-9

EIN BLINDGEBORENER WIRD SEHEND

Zur Zeit, als Bonifazius Papst zu Rom war, erhoben die Juden, deren damals eine große Anzahl dort lebte, einen heftigen Streit gegen die christliche Lehre. Maria, behaupteten sie, sei keine keusche Jungfrau: Joseph sei ihr rechter Mann gewesen und Christus sein Sohn, gegen die Natur könne nichts geschehen. Vergebens wandten die Christen ein, Gott stehe über der Natur und beherrsche sie nach Gefallen: die Juden beharrten in ihrem Widerspruche.

Da lebte ein Blindgeborener zu Rom (einige sagen, er sei ein Jude gewesen: aber das lassen wir dahingestellt), der, wie es bei Blinden oft geschieht, die heilige Schrift auswendig gelernt hatte. Dieser nahm sich der Christen an und bewies aus der Schrift, daß Gott allmächtiger Beherrscher der Natur und Christus, von einer keuschen Jungfrau geboren, wirklich Gottes Sohn sei. Wie ein Wild von den Rüden, so ward er von den Juden angebellt: „Dir, dem in Sünden Geborenen, von Gott und Natur Gestraften, ziemt es übel, so zu reden, obschon du Christus und Maria verehrst, vermöchten diese doch nicht, dich von der Blindheit zu befreien.“ Im gläubigen Vertrauen auf die göttliche Macht und Güte und die Fürbitte der Jungfrau entgegnete er: „Von heute an über drei Tage sollt ihr alle sehen, daß Gott über der Natur steht, denn er wird mir das, was ich von Natur aus entbehre, mein Augenlicht, wiedergeben!“ Höhnend antworteten die Juden: „Du rasest, Tor, dein Christus konnte sich selbst nicht helfen, als ihn unsre Väter fingen und aufhängten! Aber hilft er dir Blinden, daß du wieder siehst, so wollen wir uns alle taufen lassen.“ Dies Gelübde ward sogleich urkundlich bestätigt, und die Alten vom Rat bestimmten: Wer sich der Erfüllung weigern würde, solle seiner Habe verlustig gehen und aus Rom verwiesen werden. Der Blinde ließ sich zum Papste führen, der ihn und die Juden am Lichtmeßtage – dem Tag, da Maria den Heiland zum Tempel trug – in das Frauenmünster beschied.

Groß war an diesem Tag das Gedränge. Ein Kind führte den Blinden auf einen Platz vor dem Altar, wo ihn jeder sehen konnte. Während der Mette sprach er sein Gebet, ohne an Gott zu zweifeln, und als der Chor schwieg, hob er freudig und mit lauter Stimme an, ein Responsorium, das er zum Preise Marias selbst vorher gedichtet hatte: „Freu dich, Maria, Fraue gut!“ Und siehe! In dem Augenblick, da der letzte Vers zu Ende war, hatte er zwei schöne Augen.

Der Juden Spott lag darnieder. Fünfhundert ließen sich taufen, die übrigen mußten, wie es vorher geboten war, Rom verlassen. Der Papst aber verordnete, daß der Gesang des Blinden von den Gläubigen fortan zu Lichtmeß gesungen würde.