»Nicht mitzuhassen, mitzulieben bin ich da«

Wilhelm RaabeGeboren am 8. September 1831 in Eschershausen
Gestorben am 15. November 1910 in Braunschweig

Im Jahr 1845 starb mein Vater als Justizamtmann zu Stadtoldendorf und zog seine Witwe mit ihren drei Kindern nach Wolfenbüttel, wo ich das Gymnasium bis 1849 besuchte. Wie mich danach unseres Herrgotts Kanzlei, die brave Stadt Magdeburg, davor bewahrte, ein mittelmäßiger Jurist, Schulmeister, Arzt oder gar Pastor zu werden, halte ich für eine Fügung, für welche ich nicht dankbar genug sein kann.

Ostern 1854 ging ich nach einem Jahr ernstlicher Vorbereitung nach Berlin, um mir auch »auf Universitäten« noch etwas mehr Ordnung in der Welt Dinge und Angelegenheiten, soweit sie ein so junger Mensch übersehen kann, zu bringen. Im November desselben Jahres begann ich dort in der Spreegasse die »Chronik der Sperlingsgasse« zu schreiben und vollendete sie im folgenden Frühling. Ende September 1856 erblickte das Buch durch den Druck das Tageslicht und hilft mir heute noch neben dem »Hungerpastor« im Erdenhaushalt am meisten mit zum Leben. Denn für die Schriften meiner ersten Schaffensperiode, die bis zu letzterwähnten Buche reicht, habe ich ›Leser‹ gefunden, für den Rest nur ›Liebhaber‹, aber mit denen, wie ich meine, freilich das allervornehmste Publikum, was das deutsche Volk gegenwärtig aufzuweisen hat.

Diese autobiographische Skizze, von Wilhelm Raabe selbst für den »Haidjer«-Kalender 1906 niedergeschrieben, ist die einzige Äußerung des Schriftstellers zu seiner Person. Zu einer von vielen Zeitgenossen geforderten Autobiographie hat sich Raabe niemals durchringen können. Eigentlich schade, denn er hätte viel zu erzählen gehabt.

Geboren 1831 in Eschershausen, hatte er schon in frü­hen Jahren ein recht unstetes Leben. Nach dem Tode seines Vaters begann seine Odyssee mit einigen Wohnortwechseln: bis 1842 lebte er in Holzminden, dann Stadt­oldendorf (bis 1845) und schließlich Rückkehr zu seiner Mutter in Wolfenbüttel, wo er die Schule besuchte, die er schließlich doch ohne Abschluß beendet hat. Eine Buchhändlerlehre in Magdeburg (bis 1853) hatte er anschließend ebenso abgebrochen wie sein Studium in Berlin (1854 bis 1856), das ihm aufgrund seiner Herkunft auch ohne einen Schulabschluß ermöglicht wurde.

Ohne nennenswerte Meriten kam er für sechs Jahre zurück nach Wolfenbüttel. Allerdings hatte er seinen ersten Roman, »Die Chronik der Sperlingsgasse«, im Gepäck, der von der Kritik überaus wohlwollend beurteilt worden war. Doch so angenehm wie diese Anerkennung für den Dichter Raabe gewesen sein dürfte, die Enge in Wolfenbüttel behagte ihm nicht. Ihm fehlte die Herausforderung, die intellektuelle Auseinandersetzung. Der Erfolg der »Chronik« hatte sich sehr schnell bis nach Wolfenbüttel durchgesprochen, so daß er zu den Honoratioren dieses Städtchens gehörte und deren Vorteile durchaus zu genießen wußte.

Doch diese Art der Anerkennung konnte ihm nicht reichen, wäre auch nicht genug gewesen, um mit seinem literarischen Schaffen weiter nach vorne zu gelangen. Wie wichtig die geistige Auseinandersetzung für Raabe gewesen ist, zeigte sich bereits in seiner Magdeburger Zeit. In dieser traditionsreichen Stadt machte er Bekanntschaft mit der Philosophie Feuerbachs (»Das Wesen des Chri­sten­thums«, 1841), die ihn in der zurückhaltenden Beurteilung von Religion und Christentum bestärkte. Wir werden später sehen, wie bestimmend diese Einschätzung für Raabe bei der Charakterisierung des Pastors in »Else von der Tanne« gewesen ist.

Dann in Berlin folgte die Vertiefung der Magdeburger Erfahrungen. Hier waren es insbesondere die Vorlesungen beim Historiker Rudolf Köpke, der – erzkonservativ und die historischen wie die aktuellen Zeitereignisse durchweg konträr zu Raabe beurteilend – seine Studenten aufforderte, grundsätzlich Quellenstudien zu betreiben und dabei korrekt und exakt vorzugehen.

Für Wilhelm Raabe waren die Berliner Studien in Geschichte und Literatur überaus hilfreich für seinen folgenden Weg als Schriftsteller. In dieser Zeit begann er mit ersten literarischen Arbeiten Aufmerksamkeit zu errin­gen. Ohne die hilfreichen Anleitungen während seines ›Studiums‹ wäre die »Chronik der Sperlingsgasse« ebenso wenig denkbar wie die zahlreichen anderen Arbeiten, die noch kommen sollten.

Die neuerliche Rückkehr nach Wolfenbüttel (1856 bis 1862) und die daran anschließenden Jahre in Stuttgart (bis 1870) mit den vielfältigen Kontakten zu Literaten und vor allem auch den politisch Gleichgesinnten taten ihr übriges. Der Wilhelm Raa­be, wie wir ihn heute mit seinen mehr als 80 Werken kennen, war geboren. Von 1870 bis zu seinem Tod lebte Wilhelm Raabe in Braunschweig.