Ida Boy-Ed Feuilleton

Ida Boy-Ed
»Lübeck als Geistesform – Feuilletons«
160 Seiten – Preis: 9,95 €
ISBN 978-3-86672-028-2

DER ZAUBERBERG (1925)

Die politische Stellung eines Schaffenden soll bei der Betrachtung seines Werkes sich nicht in das Bewußtsein drängen. In Zeiten, die so von Unruhe durchströmt sind wie die Gegenwart, wird es sich nie ganz vermeiden lassen, daß die Farbe der Gesinnung des Autors in seinem Werk doch, wenn auch nur sehr übertragen, erkennbar wird. Unter besonderen Fügungen aber, die nur vom Künstler selbst herbeigeführt oder gar provoziert werden können, ist es nicht möglich zu übersehen, wo er in der Politik steht.

Solcher Fall tritt ein, wenn das Werk einem Parteizweck propagandorisch dienen soll, oder wenn der Künstler sich außerhalb seines Werks in der Politik betätigt unter jäher und auffallender Änderung seines vorherigen Standpunktes. Solche Änderung ist Thomas Manns Geste gewesen. Er hat die Peinlichkeit auf sich genommen, sich selbst zu widersprechen. Er, der in seinem großen Werk »Betrachtungen eines Unpolitischen« Wagners Satz: »Die Demokratie ist in Deutschland ein durchaus übersetztes Wesen. Sie existiert nur in der Presse«, einen unsterblichen und erlösenden Satz nannte; er, der im gleichen Buch feststellte, daß in Deutschland die Bejahung des Nationalen die Verneinung der Politik und der Demokratie in sich schließe, der sich mit Stolz als »Bürger« bezeichnete, ist Demokrat geworden; er, der den Begriff des Zivilisationsliteraten überhaupt erst schuf, hat sich neben ihn gestellt. So kam er nun in eine ähnliche Lage, wie etwa die Generale v. Deimling und v. Schönaich, die noch Titel und Ehren weiterführen, die ihnen unter anderen politischen und ethischen Bedingungen verliehen wurden. Nun, das ist seine Sache (soweit jemand, der der Öffentlichkeit durch sein Wirken angehört, ganz unbedingt von »seiner« Sache sprechen darf – was vielleicht zu verneinen, aber einer zu weitläufigen Begründung bedürfte, um hier untersucht werden zu können).

Meine Sache aber war es mit der vollen Aufrichtigkeit, die unter Charakteren, die sich seit Jahren in Hochachtung und Sympathie begegneten, selbstverständlich ist, an Thomas Mann redlichen Herzens zu schreiben, daß seine politische Wandlung mich schmerzt. Er hat diese Mitteilung mit der Würde des bedeutenden Mannes aufgenommen, der Offenheit schätzt (nur kleine Geister vertragen sie nicht!) und er hofft, daß die Zeit seine Stellung erklärlich machen werde und daß sein Werk »Der Zauberberg« dafür schon manche Vorarbeit leiste. (Ehe ich an die Betrachtung dieses Buches gehe, muß ich noch eine Paranthese mir gönnen: immer kri­stallener und imposanter erscheint Goethes, ein Menschenalter lang als kalt und unnational charakterisierte Haltung, fern und hoch über den Evolutionen seiner Gegenwart!)

Also nun »Der Zauberberg«. In Kürze kann kein Referent über diese Arbeit sprechen. Schriftleiter und Leser müssen mir Ausführlichkeit gestatten. Eine Äußerlichkeit sei vorweggenommen: die beiden starken Bände umfassen zusammen 1207 Seiten in leider sehr blasser, kleiner Schrift. Vielleicht hängt das mit der Einteilung der Gesamtausgabe zusammen. Oder der Verlag wollte vielleicht vermeiden, daß das Buch als ein vierbändiges Werk in unsere zerpeitschte Atmosphäre hinausträte. Warum nicht? Diese monumentale Arbeit richtet sich nur an höchst Kultivierte und sie würden das geistige Leben in und mit dem Werk leichter haben, wenn es zu ihnen in vier schlanken Bänden und ausgeprägtem Druck gekommen wäre.
Zwei Aussprüche kann ich über meinen Bericht setzen. Der eine stammt von Thomas Mann selbst (S. 59 I) »Zu bedeutender, das Maß des schlechthin Gebotenen überschreitender Leistung aufgelegt zu sein, ohne daß die Zeit auf die Frage ›Wozu?‹ eine befriedigende Antwort wüßte, dazu gehört eine sittliche Einsamkeit und Unmittelbarkeit, die selten vorkommt und heroischer Natur ist.« Stärker, treffender und feierlicher kann die Arbeit des geistig Schaffenden nicht gewürdigt werden! Die ganze erschütternde Hingabe an das Werk ist damit ausgesprochen, welcher Hingabe gegenüber nur die vage Unsicherheit eines möglichen Verständnisses und Erfolges steht. Und wenn wir so den »Zauberberg«, im charakterisierten Sinn, als eine Arbeit heroischer Natur bewundern müssen, erwächst aus dieser – ich möchte sagen: demütigen Haltung zugleich die Pflicht, alle Einwände gegen dieses Werk deutlich zu begründen. Und diese Einwände können nicht anders als sehr ernst und vielleicht fundamental sein. – Die andere Äußerung ist von Schopenhauer: »Die Aufgabe des Romanschreibers ist nicht, große Vorfälle zu erzählen, sondern kleine interessant zu machen.« Von der Bestreitbarkeit dieses Ausspruches sehe ich hier ab, darf ihn aber auf die Kunst von Thomas Mann beziehen, das Detail so genau und so suggestiv vorzutragen, daß es zum Träger der Spannung wird. (Goethe forderte von jedem Buche Spannung: auch ein wissenschaftliches solle den Fachmann, an den es sich richtet, in Spannung versetzen. Bei uns ist die Bezeichnung »spannend« fast ein literarisches Schimpfwort geworden). Diese seine Kunst erreicht im »Zauberberg« einen Gipfel, der nicht mehr übersteigert werden darf ohne Gefahr.

Die Inhaltsangabe des geräumigen Werkes ist sehr rasch gegeben: Ein junger Hanseat, Hans Castorp, ein Normalprodukt aus altangesehenem Hause, ohne rechte freudige Lebensenergie, soll nach bestandenem Ingenieurexamen drei Wochen ausspannen, und es liegt für ihn auf der Hand, diese Zeit zum Besuch bei seinem Stiefvetter Joachim zu benutzen, der seit drei Monaten in Davos sich im Sanatorium befindet. Dieser Stiefvetter will Leutnant werden und vor dem Eintritt in sein Regiment eine »feuchte Stelle« in seiner Lunge ausheilen. Von dem Augenblick an, wo Hans Castorp in die Umwelt des Sanatoriums eintritt, fühlen wir, daß sein Wesen sich in dieser Atmosphäre körperlicher Leiden, sittlicher Haltlosigkeit und übersteigerter Nervenreizbarkeiten auflösen und folgenschweren Umwandlungen unterliegen wird. Der Autor erweist sich als Experte in Tuberkulose. Wir erleben alle durch sie möglichen Todesformen: wir sehen neben den Türen der »Moribunden« (d.h. der dem Tode nicht mehr zu Entreißenden) die Flaschen mit Sauerstoff stehen; wir spüren in den Brusttaschen der Patienten das Aufnahmeglas für Sputum; wir werden mit den Patienten bekannt, die einen Pneumathorax haben und unter sich in grausigem Humor den Verein »Halbe Lunge« bilden. Der empfängliche Leser wird zuletzt von einer Art Unruhe erfaßt, die ihn zwingen möchte, die eigene Temperatur zu messen. Es vibriert zwischen den Patienten ein schwüles, unverhülltes Interesse an den sexuellen Beziehungen der Einen zu den Andern und bei einem Skandal wettert der Chefarzt, der Hofrat Behrens, daß er nichts dafür könne, daß die Phtise nun mal mit besonderer Konkupiscenz verbunden sei. Mit unerhörter Meisterlichkeit wird dargestellt, wie aus dem harmlosen Besucher der Anstalt allmählich deren Klient wird, in einer Art dämonischer Rattenfängerschaft, zur Autosuggestion gebracht, auch ihm könne eine Kur hier oben Heilung kleiner Schäden bringen, von deren Dasein er bisher keine Ahnung hatte. Und aus der »kleinen Kur« wird dann ein Hängenbleiben, für Jahre, wenn nicht gar für immer. Die Patienten, die solche Opfer sind, verlieren die Kraft zur unbekümmerten Exi­stenz ohne den ganzen Heilapparat, sie verlieren jede innere Verbindung mit den Pflichten des Daseins.

Wir befinden uns also zwischen lauter Outsidern der Welt, und es ist schwer zu verstehen, welchen Gewinn es gerade in unserer Gegenwart bringen soll, außerhalb ihrer zu leben. Gerade jetzt, wo sie von jedem Menschen alle Kraft erfordert, den Untergang (nicht nur unseres Volkes) aufzuhalten! Der Begriff »Zeit« löst sich auf bei den Leidenden, die von der Kostbarkeit dieses unseres wertvollsten Besitzes (denn in ihr hat die Arbeit ihre Auswirkungsfähigkeit!) gar keine Vorstellung mehr haben. Die geistreichen, kühnen oft, und oft spitzfindigen Gedankenspielereien, um diesen zerflatterten Begriff »Zeit« herum, sind verführerisch und bedenklich zugleich.

Thomas Mann hatte im Dezember 1922 und im Januar 1923 an spiritistischen Sitzungen des Münchener Parapsychologie Albert Freiherr von Schrenck-Notzingen teilgenommen. Die auf diese Weise gewonnenen Erfahrungen verarbeitete er im Roman “Der Zauberberg” (Kapitel: “Fragwürdiges”). Obwohl er positives Interesse zeigte, überwiegt im Roman die allergrößte Skepsis.