Spurgeon

Charles Haddon Spurgeon
»Der dreieinige Gott«
Herausgegeben von
Andreas Janssen und Marc Dannlowski
112 Seiten, Preis 9,95 €
ISBN 978-3-930730-04-9

Das Blut Abels und das Blut Jesu

Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde. 
1 Mose 4,10

Und zu dem Mittler des Neuen Testaments, Jesu, und zu dem Blut der Besprengung, das da besser redet, denn Abels. 
Heb. 12,24

Das erste Vergießen menschlichen Blutes war ein sehr schrecklicher Versuch. Ob Kains mörderischer Schlag geplant war oder nicht, der Anblick eines blutenden menschlichen Leichnams muß etwas Neues und Schreckliches für ihn gewesen sein. Er war noch nicht abgehärtet durch das Lesen von Schilderungen der Vorfälle im Krieg oder durch Hören von Mordgeschichten; Töten und Erschlagen waren neue Schrecken für die Menschheit, und er, der erste Gewalttäter, muß erstaunt über das Ergebnis seines Schlages und gleichzeitig voller Sorge über seine Folgen gewesen sein. Ich sehe ihn bei der Leiche stehen, einen Augenblick starr vor Schrecken, entsetzt beim Anblick des Blutes. Wird der Himmel feurige Pfeile auf ihn schießen? Wird die mit Blut getränkte Erde schnelle Rächer aus ihrem erstaunten Boden senden? Was für Fragen müssen durch die Seele des Mörders gezuckt sein! Aber nichts davon! Das warme Blut fließt in einem roten Strom auf die Erde, und ein gräßlicher Trost kommt in die Seele des schuldigen Sünders, als er die Erde das Blut aufsaugen sieht. Es bleibt nicht in einer Lache stehen, sondern die Erde tut ihren Mund auf, das Blut seines Bruders aufzunehmen und zu verbergen. Traurige Gedenkzeichen beflecken das Gras und färben den Boden rot, aber doch vertrocknet die entsetzliche Flut, und der Mörder empfindet eine augenblickliche Freude. Vielleicht ging Kain seines Wegs und dachte bei sich, daß die schreckliche Sache ganz vorbei sei. Er hatte es getan, und seine Tat konnte nicht rückgängig gemacht werden; er hatte den Schlag versetzt, sich von der Gegenwart des Menschen befreit, der ihm verhaßt war; das Blut war in der Erde versickert, und damit war die Sache zu Ende, die ihm keinen weiteren Gedanken zu verursachen brauchte. Es war in jenen Tagen keine Maschinerie von Polizei und Gesetz, von Richtern und Galgen, und darum hatte Kain wenig oder nichts zu fürchten; ein starker, kräftiger Mann, aber niemand, der ihn zu strafen vermochte, und keiner, der ihn anklagen oder tadeln konnte, ausgenommen sein Vater und seine Mutter, und diese waren möglicherweise zu sehr niedergebeugt vor Kummer und wußten zu sehr um ihre eigene Sündhaftigkeit, um viel Groll gegen ihren Erstgeborenen zu zeigen. Er mag sich deshalb gedacht haben, daß die Tat sprachlos und stumm sei, und daß man sein Verbrechen bald vergessen würde, so daß er seines Weges gehen könne, als wäre nichts geschehen.

Aber dem war nicht so, denn obwohl das Blut nicht zu seinem verhärteten Gewissen sprach, so hatte es doch anderswo eine Stimme. Eine geheimnisvolle Stimme ging hinauf in den Himmel; sie erreichte das Ohr des Unsichtbaren und bewegte das Herz der ewigen Gerechtigkeit, so daß Gott den Vorhang durchbrach, der den Unendlichen vor dem Menschen verbirgt, sich zeigte und zu Kain sprach: „Was hast du getan? Die Stimme deines Bruders Bluts schreiet zu mir von der Erde“. Da wußte Kain, daß Blut nicht so mir nichts dir nichts vergossen werden könnte. daß Mord gerächt werden würde, denn es war eine Zunge in jedem Tropfen des Blutes, der aus dem Gemordeten floß, und der fand Gehör bei Gott, so daß Er dazwischentrat und eine feierliche Untersuchung anstellte.

Brüder, es war ein noch furchtbareres Verbrechen, das auf Golgatha verübt  wurde, weil dort nicht der erste Mensch getötet wurde, sondern der Sohn Gottes selber; Er, der Mensch war, aber doch mehr als ein Mensch, Gott selbst, der Mensch geworden war. Es war eine schauerliche Tat, als sie, nachdem sie Ihn vor den Richterstuhl geschleppt hatten, ihn nach den Meineiden verurteilt und geschrien hatten: Hinweg mit Ihm! Hinweg mit Ihm! wirklich wagten, die Nägel zu nehmen und den Sohn Gottes an das verfluchte Holz zu nageln, seinen Leib zu erheben zwischen Himmel und Erde und seine Leiden zu beobachten, bis sie mit seinem Tod endeten, und dann seine Seite zu durchbohren, bis Blut und Wasser herausfloß. Ohne Zweifel dachte Pilatus, der seine Hände in Wasser gewaschen hatte, daß kein Unheil daraus entstehen würde. Die Schriftgelehrten und Pharisäer gingen weg und sprachen: Wir haben die anklagende Stimme zum Schweigen gebracht. In den Straßen wird man nicht mehr seinen Ruf hören, wenn er sprach: „Wehe euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler.“ Wir werden nicht länger in unsrer Heuchelei und unserem Hängen an Formen gestört werden durch die Gegenwart eines reinen und heiligen Menschen, dessen einfache Aufrichtigkeit ein strenger Vorwurf gegen uns war. Wir haben Ihn ermordet, wir haben Ihn ohne gerechte Ursache ums Leben gebracht, aber nun hat die Sache ein Ende. Dieses Blut wird keine Stimme haben. Sie wußten nicht, daß der Schrei Jerusalems schon hinauf zum Himmel gegangen war. „Sein Blut komme über uns und unsre Kinder!“ war auf den Tafeln der Gerechtigkeit verzeichnet, und in kurzer Zeit wurde Jerusalem die Schatzkammer des Leids und eine Höhle des Elends, so daß etwas Ähnliches wie ihre Zerstörung niemals auf Erden gewesen ist und niemals sein wird. Weit erfreulicher ist es, daß ein anderer, melodischerer Ruf vom Kreuz auf Golgatha zum Himmel hinaufstieg. „Vater, vergib ihnen!“ Das Blut Abels war nicht ohne Stimme; das Blut Jesu war nicht stumm; es rief so, daß es unter den Thronen des Himmels. gehört wurde, und gelobt sei Gott, es sprach für uns und nicht gegen uns; es wurde kein Ruf der Rache, wie es wohl hätte sein können, sondern ein Ruf der Vergebung – anders als der Ruf Abels. Es forderte nicht wütendere Rache als die, die Kain ertragen mußte; es verlangte nicht, daß wir ruhelos und flüchtig auf Erden umhergetrieben werden sollten und zuletzt, auf ewig von Gott verbannt, in die Hölle kämen, sondern es rief: „Vater, vergib ihnen“, und es siegte, und der Fluch wurde von uns genommen, und ein Segen kam zu den Menschenkindern.

Heute haben wir vor, gemeinsam das Reden der Stimme des Blutes Abels und der Stimme des Blutes Jesu zu vergleichen.  Beide redeten. Das ist sichtbar. Abel redet noch, obwohl er gestorben ist, sagt der Apostel, und wir wissen zu unserem ewigen Trost, daß das Blut Jesu vor dem ewigen Thron redet. Jedes Blut hat eine Stimme, denn Gott wacht eifrig darüber, daß es erhalten bleibt, das Blut guter und gerechter Menschen hat eine noch himmlischere Sprache, aber die Stimme des Blutes Jesu übertrifft sie alle weit und trägt unter zehntausend Stimmen den Siegeskranz davon.